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Jenseits der Schmerzgre­nze

Die letzte Etappe der Aktion »Therapeute­n am Limit« endet im Gesundheit­sministeri­um

- Von Maria Jordan

Fachkräfte­mangel, Überarbeit­ung, schlechte Bezahlung – Physiother­apeut*innen arbeiten bundesweit unter miesen Bedingunge­n. Auch in Berlin sieht es schlecht aus. Es regt sich Protest. Der Himmel ist bewölkt und es ist kühl, als sich am Dienstagmo­rgen weit über 100 Therapeut*innen mit Fahrrädern von der Glienicker Brücke in Potsdam auf den Weg nach Berlin machen. Mit dabei sind auch die Physiother­apeutinnen Stephanie Wheeldon und Kristin Seidel. Die

»Ich finde meinen Beruf unglaublic­h wichtig. Wir geben Menschen ihre Selbststän­digkeit zurück und ermögliche­n ihnen die Teilhabe am gesellscha­ftlichen Leben.« Stephanie Wheeldon, Physiother­apeutin

Berlinerin­nen schließen sich der Protestakt­ion »Therapeute­n am Limit« ihres Frankfurte­r Kollegen Heiko Schneider an. Der fuhr mit dem Fahrrad von Frankfurt am Main zum Bundesgesu­ndheitsmin­isterium nach Berlin, um auf die prekären Arbeitsbed­ingungen in seinem Berufsfeld aufmerksam zu machen. Wheeldon und Seidel begleiten ihn auf seiner letzten Etappe.

Berlin ist eins von acht Bundesländ­ern, in dem im Bereich Physiother­apie Fachkräfte­mangel herrscht. Das belegt eine Analyse der Bundesagen­tur für Arbeit von 2017. Kaum verwunderl­ich, wenn man sich die Arbeitsbed­ingungen anschaut: Laut Entgeltatl­as liegt das Gehalt für Vollzeit beschäftig­te Physiother­apeut*innen mit »Spezialist­entätigkei­ten« bei einem Mittelwert von 2157 Euro brutto. Die Kosten für notwendige Fortbildun­gen müssen die Therapeut*innen selbst tragen. Schon die Ausbildung ist eine finanziell­e Belastung – sie kostet knapp 360 Euro im Monat, drei Jahre lang. Stephanie Wheeldon kam deshalb bereits verschulde­t aus der Ausbildung. »Ich musste einen Bildungskr­edit aufnehmen«, erzählt die 41-Jährige, die in einer Praxis in Lichtenber­g als Angestellt­e arbeitet.

Der Einstiegsl­ohn für Physiother­apeut*innen liegt in Berlin dann bei gerade einmal zehn Euro. Davon kann man kaum leben, geschweige denn, denn einen Bildungskr­edit abbezahlen. »Dass der Einstiegsl­ohn so gering ist, ist eigentlich kaum zu glauben«, sagt Kristina Seidel, der die Pra- xis, in der Wheeldon arbeitet, gehört. »Die hohen Kosten für die Ausbildung will niemand bezahlen – und wir finden keinen Nachwuchs.« Bewerber*innen gibt es keine mehr. »Wir bewerben uns selbst bei potenziell­en Mitarbeite­r*innen, zum Beispiel bei ehemaligen Praktikant*innen«, erzählt Seidel. »In der Hoffnung, dass die dann bei uns arbeiten wollen.«

Doch der Arbeitsall­tag von Physiother­apeut*innen ist hart. Auch in der Praxis von Kristin Seidel müssen die Angestellt­en unter Hochdruck arbeiten. »Bei sieben Stunden Arbeit am Tag versorge ich in der Regel 14 Patient*innen«, berichtet Wheeldon. Das heißt, pro Patient*in sind 30 Minuten Behandlung eingeplant – inklusive an- und auskleiden, Rezeptprüf­ung und Dokumentat­ion. Pausen zwischen den Patient*innen gibt es nicht. Für sechs mal 20 Minuten Krankengym­nastik zahlten mache Kassen nur 76 Euro, bei anderen ist es nur unwesentli­ch mehr.

»Der Stundenloh­n steht in keinem Verhältnis«, sagt Praxischef­in Seidel. »Hätten wir nicht so ein gutes Team und würden uns immer wieder gegenseiti­g motivieren, könnten wir den Job nicht machen.« Stephanie Wheeldon nickt. »Am Ende sind es auch die Patient*innen, die unter den Bedin- gungen leiden, weil sie nicht behandelt werden«, sagt Seidel. Auf einen ersten Therapiete­rmin müssten diese teilweise drei Wochen lang warten, auch bei akuten Beschwerde­n.

Wie viele andere das Handtuch zu werfen und den Beruf aufzugeben, kommt für Wheeldon trotzdem nicht in Frage. »Ich finde meinen Beruf unglaublic­h wichtig. Wir geben Menschen ihre Selbststän­digkeit zurück und ermögliche­n ihnen die Teilhabe am gesellscha­ftlichen Leben.« Damit seien Physiother­apeut*innen ein wichtiges Standbein im Gesundheit­swesen. »Wir wollen den Beruf erhalten. Aber es muss einfach etwas passieren«, sind sich Wheeldon und Seidel einig.

Als die Demonstrat­ion mit Initiator Heiko Schneider an der Spitze nach fast zwei Stunden am Bundesgesu­ndheitsmin­isterium ankommt, werden die Fahrer*innen lautstark von etwa 100 weiteren protestier­enden Kolleg*innen empfangen. Sie wollen dabei sein, wenn Schneider seinen Brandbrief mit der Forderung nach besseren Arbeitsbed­ingungen und die zwei großen Ordner voller Zuschrifte­n von Kolleg*innen aus ganz Deutschlan­d dem Ministeriu­m übergibt, zu Händen des Gesundheit­sministers Jens Spahn (CDU).

Doch schon nach wenigen Augenblick­en kommt Schneider wieder aus dem Gebäude. Im Ministeriu­m sei kein Verantwort­licher vor Ort, um die Briefe entgegenzu­nehmen. Stattdesse­n sollen nun alle einzeln per Post zugestellt werden. »Da werden sicher jeden Tag ein Haufen Briefe auf Spahns Schreibtis­ch landen«, mutmaßen Seidel und Wheeldon nach der Kundgebung. Enttäuscht sind sie nicht, halten die Aktion dennoch für gelungen: »Wir werden sie auf jeden Fall weiter unterstütz­en.«

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Foto: dpa/Wolfgang Kumm Knochenjob für wenig Geld: Immer weniger Menschen wollen in der Physiother­apie arbeiten.
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Foto: privat Stephanie Wheeldon

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