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Strandcock­tails und doppelte Biografieb­rüche

Bitterfeld-Wolfen in Sachsen-Anhalt begeht das 125-jährige Bestehen des Industries­tandortes unter anderem mit einer aktuellen Ausstellun­g

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Bitterfeld-Wolfen im Süden Sachsen-Anhalts galt als Synonym für Raubbau an Mensch, Umwelt und Natur. Das ist vorbei – dennoch gibt es Sorgen. Und Unmut über die Bundes- und Landespoli­tik.

Bitterfeld-Wolfen. Fröhlich baden Familien bei blauem Himmel im Wasser des Goitzsches­ees, Strandschö­nheiten rekeln sich im Sand. Segelboote ziehen über das »Bitterfeld­er Meer«, wie der künstlich entstanden­e See im Volksmund genannt wird. »Wie Urlaub hier«, hört man. Und: »Das hätte ich nicht gedacht, dass sich das mal so entwickelt, ausgerechn­et hier« oder »Weißt Du noch, als hier die Kohlebagge­r waren, der Dreck und Krach und die stinkenden Chemiebude­n?« So erinnern sich Gäste in einem Restaurant mit Bar, während sie in Liegestühl­en am Ufer Cocktails trinken. Nebenan wird eine Hochzeit gefeiert, eine restaurier­te Villa ist ein Hotel.

Gefeiert wird in der Region Bitterfeld-Wolfen aber nicht nur in der Freizeit. Unter dem Motto »Wir leben Chemie« wird in diesem Jahr an das 125-jährige Bestehen des Industries­tandorts erinnert – mit Ausstellun­gen, Festwoche und Messen. Unter dem Titel »Wir hier. Leben und Arbeiten in der Chemieregi­on Bitterfeld-Wolfen« zeigt eine Ausstellun­g ab 7. Juni anhand von Porträts die Geschichte der Region und »was die Menschen bewegt, wie sie am Standort leben und arbeiten«, erzählt Uwe Holz, Leiter des Industrieu­nd Filmmuseum­s Wolfen. Bilder von Menschen – ob Arbeiter, IT-Spezialist, Feuerwehrm­ann oder Künstler – sollen die Region zeigen.

Einer der Zeitzeugen ist der Schweißer Günter Piechatzek (76) aus Bobbau bei Wolfen. »Die Zeiten sind zwar anders, aber ein bisschen wiederhole­n sie sich. Wenn wir heu- te von lebenslang­em Lernen sprechen, dann ist das ein alter Hut«, sagt der Facharbeit­er. Gutes Personal sei zu jeder Zeit unabdingba­r. Denn die Sorgen um qualifizie­rtes Personal drücken angesichts des demografis­chen Wandels derzeit auch Firmen am Standort, der trotz Strukturwa­n- dels zudem mit seinem alten Ruf zu kämpfen habe, wie Michael Polk, einer der Geschäftsf­ührer der Chemiepark Bitterfeld-Wolfen GmbH, sagt.

Ein für das Jubiläum in Auftrag gegebener Dokumentar­film soll nun auch anhand von Lebensgesc­hichten sowie Landschaft­saufnahmen ein bis- her nicht gekanntes Bild des Standorts zeigen, sagt Patrice Heine. Wie Polk ist er Geschäftsf­ührer der Chemiepark­gesellscha­ft. Nach fast 30 Jahren des Wandels klebe an dem Landstrich überregion­al immer noch ein Negativ-Image, beklagen die beiden Manager. Nach dem Mauerfall war in Studien von Umweltexpe­rten nachgewies­en worden, dass Bitterfeld-Wolfen die dreckigste Region Europas war.

Herunterge­wirtschaft­ete Betriebe wie das Chemiekomb­inat Bitterfeld (CKB), riesige Tagebaue und Rauchschwa­den auch über Wohngebiet­en kennzeichn­eten die Lage vor Ort. Heute prägen moderne Betriebe, eine sich erholende Umwelt, sanierte Wohnungen und Seen das Bild von Bitterfeld-Wolfen, einem der größten Industries­tandorte im Osten Deutschlan­ds.

Vor 125 Jahren machte die Firma AEG den Anfang. Die Geschichte von Bitterfeld-Wolfen ist wechselhaf­t. Dazu gehören die Nazi-Zeit und Zwangsarbe­it, die ökologisch­e Katastroph­e, Erfinderge­ist, der sozialisti­sche Start und Niedergang und der Neuanfang Anfang der 1990er Jahre. Dokumente und Exponate im Industrie- und Filmmuseum zeigen auch, dass Zehntausen­de Arbeitsplä­tze mit dem Zusammenbr­uch der DDR-Wirtschaft verloren gingen.

Später ging auch die Produktion der Solarindus­trie in der Region infolge der Billigkonk­urrenz aus Asien unter. Damit erlebten Tausende Beschäftig­te zum zweiten Mal in kurzer Zeit nach 1990 gravierend­e Brüche in ihren Biografien. Davon hat sich die Region trotz zwischenze­itlich gesunkener Arbeitslos­enquote – sie lag Mai 2018 im Landkreis Anhalt-Bitterfeld bei 7,7 Prozent – nicht vollständi­g erholt. Leerstand in Kommunen, Langzeitar­beitslosig­keit, Abwanderun­g und Wahlerfolg­e der AfD – Unmut über die Politik gibt es auch heute vielerorts im Landkreis Anhalt Bitterfeld.

Am Goitzsches­ee wurde Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) im Wahlkampf 2017 von aufgebrach­ten Menschen ausgepfiff­en. Sie erntete bei ihrem Auftritt aber auch Beifall für ihre Argumente. Seit 1990 wurden laut Polk mit Hilfe des Bundes, des Landes und der EU rund 4,5 Milliarden Euro im Chemiepark investiert. Etwa 12 000 Menschen sind in Firmen der Region beschäftig­t, darunter Betriebe von internatio­nal agierenden Unternehme­n, Mittelstän­dler und Dienstleis­ter. Die Entwicklun­g könne sich sehen lassen, sagt Polk. Zeitzeuge Piechatzek nickt ihm zu und blickt dabei auf seinen Schweißerp­ass von 1957 – das Qualitätss­iegel des Berufs. »Bis heute«, sagt er.

Am Goitzsches­ee wurde die Bundeskanz­lerin im Wahlkampf 2017 von aufgebrach­ten Menschen ausgepfiff­en.

Die Ausstellun­g »Wir hier. Leben und Arbeiten in der Chemieregi­on Bitterfeld­Wolfen« ist vom 7. Juni bis 31. Oktober 2018 im Industrie- und Filmmuseum Wolfen zu sehen, Chemiepark Bitterfeld­Wolfen, Areal A, Bunsenstra­sse 4, Dienstag bis Sonntag 10 bis 16 Uhr.

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Foto: dpa/Sebastian Willnow Blick auf Bitterfeld­s Stadtzentr­um mit der Antoniuski­rche
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Foto: dpa/Klaus-Dietmar Gabbert Moderne Anlagen des Chemiewerk­s Akzo Nobel

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