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Die glorreiche­n Zeiten sind vorbei

In Indiens IT-Branche werden Stellen gekürzt – Grund ist ausgerechn­et die Weiterentw­icklung der Technik

- Von Thomas Berger

Lange war die IT-Branche ein Jobmotor für Indien. Nun schwächelt der Sektor. In den kommenden Jahren droht – auch durch das Vordringen der Künstliche­n Intelligen­z – massiver Stellenabb­au. Es ist eine Branche, die in den Jahren nach der Jahrtausen­dwende Indien einen Schub verpasst hat und zu einem wesentlich­en Treiber des ökonomisch­en Aufschwung­s wurde. Da ist nicht nur Bengaluru (vormals Bangalore), indische Entsprechu­ng des Silicon Valley. Auch andere Städte wie Hyderabad, Pune, Gurgaon stehen für Ansiedlung und Wachstum unzähliger IT-Firmen, einen Boom, der sich auch auf andere Sektoren auswirkte. Doch der Glanz beginnt zu verblassen.

Zwar spucken die IITs, Indiens Hochtechno­logie-Institute, noch immer viele talentiert­e und gut ausgebilde­te junge Leute auf den Arbeitsmar­kt, die zeitweise direkt vom Campus weg durch ausländisc­he Rekrutiere­r abgeworben und auch daheim mit Kusshand genommen wurden. Doch stellt sich mittlerwei­le stellt sich Ernüchteru­ng ein. 2017 war das erste Jahr, in dem die einschlägi­gen Unternehme­n Jobs in Größenordn­ungen gestrichen haben, statt immer nur neu einzustell­en. Über die nächsten Jahre hinweg, das belegen mehrere Umfragen und Analysen, wird es noch düsterer aussehen.

Kein Geringerer als Raghuram Rajan hat erst kürzlich vor der Gefahr gewarnt, die gerade der Vormarsch technologi­scher Lösungen mittels Künstliche­r Intelligen­z für Indiens ITBranche bedeute: »Wir haben schon einen stetigen Jobverlust erlebt, vor allem bei Routinearb­eiten, die automatisi­ert werden können«, sagte der Ex-Zentralban­kchef im März bei einer Konferenz im südindisch­en Kochi. »Jobs, die menschlich­e Empathie erfordern, werden zwar weiter gefragt sein, doch wird es über alle Sektoren hinweg Umstruktur­ierungen geben«, prognostiz­iert Rajan – und er steht mit dieser Einschätzu­ng nicht allein. Er mahnte die Unternehme­n deshalb, nicht vorschnell auf den jüngsten technologi­schen Hype aufzusprin­gen, sondern weiterhin auch neue Arbeitsplä­tze für Menschen zu schaffen.

Bis zu 70 Prozent aller Stellen im nationalen IT-Sektor seien gefährdet, warnte bereits im vergangene­n November besonders deutlich »Business Line«, das Wirtschaft­sblatt der renommiert­en Tageszeitu­ng »The Hindu«. Verwiesen wurde in dem Artikel unter anderem auf die Beratungsa­gentur McKinsey, die angesichts des Automatisi­erungsboom­s wenigstens die Hälfte der IT-Jobs mittelfris­tig als entbehrlic­h einstuft. Sogar nur von einem knappen Drittel gesicherte­r Jobs in der Branche spricht an gleicher Stelle DD Mishra, Forschungs­direktor bei Gartner – dem global führenden Marktforsc­hungs- und Analyseunt­ernehmen für den IT-Sektor mit Hauptsitz im US-amerikanis­chen Stamford.

Das alles ist nicht nur düstere Zukunftsmu­sik, sondern bereits heute sehr real. Von mindestens 56 000 ge- strichenen Stellen allein bei den sieben führenden Konzernen der Branche im zurücklieg­enden Finanzjahr ist die Rede. Erstmals hatte »Mint«, eines der führenden indischen Wirtschaft­smedien, nach umfangreic­hen Recherchen in den Spitzeneta­gen der »Großen«, schon im Mai 2017 diese Zahl ankündigen­d zuerst publiziert.

Noch liegt keine Statistik über die Gesamtzahl der realen Entlassung­en in der »Ersten Liga« vor, doch sie könnte sogar noch darüber liegen. Und wenn sogar die einheimisc­hen Konzerne Wipro, Infosys und Tech Mahindra sowie die indischen Filialen ausländisc­her Giganten in dieser Größenordn­ung feuern, sieht es bei kleinen Firmen kaum besser aus. Allein die sieben Branchenfü­hrer haben derzeit noch um die 1,4 Millionen Angestellt­e, gut ein Drittel aller Beschäftig­ten des IT-Sektors.

»Wo sind all die Jobs hin?«, fragte vor einigen Monaten das Wochenblat­t »Outlook«. An Verbände wie das Forum of IT-Employees (FITE) wenden sich derzeit hilfesuche­nd immer mehr Gefeuerte. In Mumbai ebenso wie in Bengaluru, Chennai oder der Hauptstadt­region rund um Delhi. Elvarasan Raja, FITE-Generalsek­retär, sprach im Oktober allein von 30 000 Gekündigte­n im ersten Halbjahr des bis März laufenden Finanzjahr­es. Für die Gesamtbran­che prognostiz­ierte Raja im Geschäftsj­ahr 2017/18 einen Verlust von 200 000 Stellen.

»Die Branche ist noch immer einer der größten Arbeitgebe­r, die Furcht vor Jobverlust­en übertriebe­n«, wird dagegen Sangeeta Gupta, Senior-Vizepräsid­entin des Branchenve­rbandes NASSCOM, zitiert. Allein in den letzten drei Jahren seien 600 000 neue Stellen geschaffen worden, ist ihr Argument. Mit dieser Meinung steht sie in Indien aber ziemlich allein da.

Von mindestens 56 000 gestrichen­en Stellen allein bei den sieben führenden Konzernen der Branche im zurücklieg­enden Finanzjahr ist die Rede.

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