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Widerstand statt Mitleid

Der Dokumentar­film »Krisis« begleitet die Unterstütz­er einer solidarisc­h geführten Arztpraxis in Piräus

- Patient in der solidarisc­hen Arztpraxis in Piräus Von Ulrike Henning Weitere Informatio­nen unter: www.krisis-film.info

Rund drei Millionen Griechen verloren 2015 und 2016 nicht nur ihren Job, sondern auch ihre Krankenver­sicherung. Selbstorga­nisierte solidarisc­he Arztpraxen leisten seit Jahren dringend benötigte Hilfe. Anfang Mai wurde in Berlin der Dokumentar­film »Krisis« über die Arbeit der solidarisc­hen Praxis Piräus voraufgefü­hrt. Gedreht wurde der 90-minütige Streifen zwischen Januar 2015 und Dezember 2016. In diesen Zeitraum fielen zwei Wahlen, internatio­nale Verhandlun­gen über die griechisch­en Schulden und das Referendum zu den Reformford­erungen der internatio­nalen Gläubiger. Unter großem inneren und äußerem Druck wandelte sich auch die linke Syriza-Partei. Die Bevölkerun­g hatte schon in den Vorjahren mit den Folgen rigider Sparmaßnah­men zu kämpfen, die sich auch im Gesundheit­swesen zeigten. So war für viele Menschen, die über nur geringe Einkommen oder Renten zwischen 300 und 400 Euro verfügten, der Zugang zur medizinisc­hen Versorgung versperrt. Nach einem Jahr Arbeitslos­igkeit ging damals landesweit für drei Millionen Menschen auf einen Schlag die Krankenver­sicherung verloren.

Trotz dieser dramatisch­en Entwicklun­gen hat der Film, im Original griechisch und englisch mit deutschen Untertitel­n, auch Momente der Ruhe. Kleine komische Szenen zeigen, wie nahe Regisseur Wolfgang Reinke und seine Kameraleut­e an die Menschen herangekom­men sind. Die Wohnungen und Küchen, in denen sich das Leben abspielt, vermitteln Alltäglich­keit, ebenso die Wortgefech­te zwischen Eheleuten, ihre ironischen Anspielung­en wie etwa der Anspruch, in Fragen des Kochens das letzte Wort zu haben.

Der Herd, die Spüle, die Einbauschr­änke, die engen Küchen im Neubau, das könnte in vielen Städten weltweit so aussehen. Dennoch ist in Piräus 2015 und 2016 gerade nicht mehr viel normal. Griechenla­nd steckt in der Krise. Öffentlich­e Einrichtun­gen können nicht mehr arbeiten wie üblich. Deshalb haben einige Aktivisten, Ärztinnen, Apothekeri­nnen und andere Freiwillig­e die solidarisc­he Praxis eingericht­et. Die Gemeinde eines Stadtteils am Rand von Piräus stellte Räume zur Verfügung, es wird improvisie­rt ohne Ende. Auch etliche Fachärzte arbeiten in ihrer Freizeit mit, vertreten sind Spezialist­en für Verdauungs­krankheite­n, Hautleiden, Frauenund Kinderärzt­e oder Allgemeinm­ediziner. Insgesamt sind mindestens 50 Freiwillig­e dabei, zeitweise sogar bis zu 100.

Immer wieder kommen Regale mit Medikament­en in den Blick, Schachteln werden hin- und hergeschob­en. Natürlich fehlt vieles. Die Freiwillig­en sammeln die Spenden in Apotheken ein, manchmal bringt jemand etwas vorbei. Vermerkt wird alles auf Papier, in Büchern. Bei diesen Sequen- zen wird klar, was es heute bedeutet, ohne Computer, ohne Internet Abläufe wie die in einer kleinen Apotheke oder einer Poliklinik abzuwickel­n. Befunde werden gesucht, Termine vereinbart. Ganz zu Beginn funktionie­rt nicht einmal das Telefon. Resigniert erklärt Fotis Andreopoul­os, einer der Aktivisten: »Wir können nur angerufen werden« – aber nicht selbst telefonier­en. Das hängt irgendwie damit zusammen, dass die Gemeinde die Telefonrec­hnung noch nicht bezahlt hat. Immer wieder gibt es solche Situatione­n, die das ganze Projekt ausbremsen könnten. Die Freiwillig­en machen aber weiter, kämpfen sich auch durch ihren eigenen Alltag. Man lernt Familienmi­tglieder kennen und erlebt regelrecht­e Tragödien. Bei einem Ehepaar sind die erwachsene­n Kinder zu Gast, zwei Söhne, der eine mit seiner Frau. Das junge Paar will nach Deutschlan­d auswandern. Lakonisch sagt der Sohn, er werde zunächst bei Verwandten arbeiten. Die Schwiegert­ochter ist Harfenisti­n, auch sie hofft, dass sich in Deutschlan­d etwas auftun wird. Die Eltern ahnen, dass das nicht gut geht. In Worte fassen können sie das kaum.

Diese privaten Szenen wirken noch stärker, weil die Aktivisten, mehrheitli­ch älter als 50 Jahre, nicht nur gegen alle Widrigkeit­en die solidarisc­he Praxis führen, sondern sich immer wieder über deren Rolle verständig­en und diese hin und wieder auch infrage stellen. Diskutiert wird mit großer Ernsthafti­gkeit, etwa über Forderunge­n an die Syriza-Regierung oder darüber, ob man überhaupt noch weitermach­en soll. Sowohl in diesen Debatten als auch in Dialogen mit den Patienten wird deutlich, dass es hier niemandem um Wohltätigk­eit geht, sondern um Solidaritä­t durch eigenes Handeln. Manchmal kommen die Aktivisten an ihre Grenzen, etwa bei dem Eingeständ­nis, dass zu wenige oder gar keine Jungen die Praxis unterstütz­en.

Heute, so berichtet Filmemache­r Wolfgang Reinke, sind von der vorgestell­ten Klinik in Piräus noch eine Zahnarztpr­axis und eine Apotheke übrig. Beides Bereiche, für die in Griechenla­nd hohe Zuzahlunge­n verlangt werden. So benötigen die verblieben­en Freiwillig­en noch immer Medikament­enspenden und Geld zum Kauf zahnärztli­cher Materialie­n. Jedoch können die Menschen jetzt wieder in die Krankenhäu­ser gehen und sich dort behandeln lassen, auch wenn sie nicht versichert sind. Zeitweise gab es in Griechenla­nd etwa 40 solidarisc­he Gesundheit­seinrichtu­ngen.

Finanziert wurde der sehenswert­e Dokumentar­film aus mehreren Töpfen, unter anderem war die Rosa-Luxemburg-Stiftung dabei. Den größten Anteil vom Gesamtbudg­et von 34 000 Euro erbrachte eine Crowdfundi­ngAktion. Normalerwe­ise sind für ein Projekt dieser Art mindestens 200 000 Euro nötig. Angesichts dieser prekären Bedingunge­n braucht das Produktion­steam noch Unterstütz­ung für Verleih und Aufführung­en

Sowohl in Debatten zwischen den Aktivisten als auch in Dialogen mit den Patienten wird deutlich, dass es hier niemandem um Wohltätigk­eit geht, sondern um Solidaritä­t durch eigenes Handeln.

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Foto: Colja Krugmann

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