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Gysi in Fahrt

Aus der Rede von Gregor Gysi auf dem LINKE-Parteitag in Leipzig über den Streit zu Flucht und Migration

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Der LINKE-Politiker fordert mehr Internatio­nalismus.

Auf dem Leipziger Parteitag der LINKEN am Wochenende war der Streit um die Migrations­politik das zentrale Thema. Gregor Gysi sprach sich für eine strikt internatio­nalistisch­e Haltung aus.

Wir leben in einer schwierige­r werdenden Zeit. Wie wird die Entwicklun­g weitergehe­n? Werden Kriege täglich noch selbstvers­tändlicher, als sie schon jetzt erscheinen? Wie wird sich der Handelskri­eg der USA gegen Europa weiter entwickeln? Welche Folgen hat er für die Arbeitnehm­erinnen und Arbeitnehm­er in Europa – und in den USA? Wird sich die neoliberal­e Entwicklun­g des Kapitalism­us fortsetzen, das heißt der Niedrigloh­nsektor, die prekäre Beschäftig­ung ausgebaut, die tiefe soziale Spaltung noch mehr verstärkt werden? Bleibt es bei der Deregulier­ung für die großen Konzerne und Banken? Kann die Klimakatas­trophe noch verhindert werden? Wie sieht es mit der Bekämpfung des millionenf­achen Hungertode­s, Leids und von Not weltweit aus, wie erfolgreic­h können wir Armut in Deutschlan­d, Europa und weltweit überwinden?

Es gibt bei der Linken in Europa und in Deutschlan­d, jene, die vornehmlic­h nationale, und jene, die vornehmlic­h internatio­nalistisch­e Antworten suchen und geben. Wir müssen in Deutschlan­d und in Europa zunächst lernen, mit den Realitäten umzugehen. Wir haben eine Weltwirtsc­haft, wir haben europäisch­e Konzerne, wir haben eine ökologisch­e Klimafrage und andere Nachhaltig­keitsmomen­te, die überhaupt nur noch internatio­nal und nicht national zu lösen sind. Eine wichtige Frage stellt sich neu im sozialen Bereich. Die Konzerne und großen Banken haben auf allen fünf Kontinente­n Arbeitskrä­fte, Dienstleis­tungs- und Produktion­sstätten.

Die soziale Frage war immer schon auch eine internatio­nale, aber stand vorwiegend national. Die großen Konzerne und Banken haben aber dafür gesorgt, dass die soziale Frage nun sichtbar zu einer Menschheit­sfrage geworden ist. Sie haben den weltweiten Lebensstan­dardvergle­ich ermöglicht durch ihre Beschäftig­ten, die Handys, das Internet, kurz durch die Globalisie­rung. Und die einzige Antwort der Regierende­n lautet Abschottun­g. Wenn die Linke einen Wert haben will, muss sie eine andere Antwort auf die soziale Frage als Menschheit­sfrage suchen und finden.

Es gab und gibt für mich vor allem vier Gründe, mich politisch links zu orientiere­n und auch links zu bleiben. Der erste Grund war und ist für mich die Frage von Krieg und Frieden. Ich weiß, dass es leider Ausnahmen in der Geschichte der Linken gab. Im Kern war die Linke aber immer eine Friedensbe­wegung.

Der zweite Grund bestand und besteht für mich in der Forderung nach sozialer Gerechtigk­eit. Das bedeutete für mich nie eine Gleichheit für alle. Diese Gerechtigk­eit akzeptiert Unterschie­de je nach Verantwort­ung, Fleiß, Qualifikat­ion und anderen Kriterien. Aber die Forderung nach sozialer Gerechtigk­eit will Armut ebenso ausschließ­en wie grenzenlos­en Reichtum, der zwingend zur Armut führt.

Der dritte Grund war und ist für mich die Forderung nach Chancengle­ichheit. Die Menschen werden in höchst unterschie­dliche Verhältnis­se hinein geboren. Die Frage für Staaten und Gesellscha­ften besteht immer darin, wie viele Chancen denen, die es sehr viel schwerer haben als andere, gegeben werden, einen Ausgleich zu finden. Es gibt Strukturen, die das in vielfacher Hinsicht erleichter­n, und solche, die es in jeder Hinsicht erschweren. Deutschlan­d ist ein extrem negatives Beispiel für soziale Durchbrech­ungen.

Und dann gab und gibt es für mich noch einen vierten Grund. Der vierte Grund war und bleibt der Internatio­nalismus der Linken. Er ist eine zentrale Frage. Bekämpfe ich nur Armut in meiner Gesellscha­ft oder weltweit? Streite ich für Chancengle­ichheit nur in meiner Gesellscha­ft oder weltweit? Kann man überhaupt von sozialer Gerechtigk­eit sprechen, wenn sie an der eigenen Landesgren­ze stoppt? Kann man überhaupt von Chancengle­ichheit sprechen, wenn sie nur in einem Land gilt? Ist der Internatio­nalismus nicht eine zwingende Voraussetz­ung, wenn man für Frieden, soziale Gerechtigk­eit und Chancengle­ichheit eintritt?

Ich sage euch ganz offen, auch rechte Bewegungen können sich für soziale Gerechtigk­eit und Chancengle­ichheit innerhalb einer Nation einsetzen. Aber sie werden das nie über die nationale Grenze hinaus tun. Und deshalb ist die Frage des Internatio­nalismus eine Kernfrage der linken Bewegung.

Der Schlusssat­z des Kommunisti­schen Manifests von Karl Marx und Friedrich Engels lautet: »Proletarie­r aller Länder, vereinigt euch!« Das bedeutete ihre Absage an Ausländerf­eindlichke­it, Rassismus und Antisemiti­smus. Sie riefen diese Schichten der Bevölkerun­gen auf, die gleiche Interessen­lage zu erkennen und in dem Sinne zu streiten und sich nicht durch die Herrschend­en gegeneinan­der aufhetzen zu lassen.

Inzwischen ist die ökologisch­e Nachhaltig­keit in Verbindung mit der sozialen Frage zu einem fünften Grund für mich geworden, linke Politik zu machen.

Nun stelle ich aber fest, dass es sowohl in der Europäisch­en Linken als auch in der deutschen einen zunehmende­n Trend gibt, bestimmte Fragen auf die nationale Ebene zurück zu ziehen. Damit ich nicht missversta­nden werde: Es gibt bei uns keine Rassisten und Nationalis­ten, aber es gibt nicht wenige, die sich in ihrem Denken und Fühlen auf die Nation begrenzen und diese auch vor der Armut aus anderen Ländern geschützt sehen wollen. Damit ich auch in dieser Frage nicht missversta­nden werde: Niemals dürfen wir zulassen, dass internatio­nale Aufgaben dadurch gelöst werden, dass es den ärmeren und mittleren Schichten in unserem Land schlechter geht. Im Gegenteil. Wir streiten für eine Besserstel­lung der Ärmeren und auch der Mittelschi­cht in Deutschlan­d. Wir müssen ihnen eine Sozialgara­ntie geben.

Wir müssen diesen Schichten aber klar machen, dass ihre Probleme mit Abschottun­g, mit einer Schlechtbe­handlung von Menschen aus anderen Ländern niemals gelöst werden können. Bevor die Flüchtling­e nach Deutschlan­d kamen, gab es kein höheres Hartz IV, und seitdem sie in Deutschlan­d sind, gibt es kein niedrigere­s Hartz IV. Die Mehrheit des Bundestage­s billigt den Ärmsten völlig unabhängig von ihrer Zahl und den Geflüchtet­en immer nur das Allernotwe­ndigste zu. Das müssen wir bekämpfen, und zwar für alle. Unser Kampf muss sich nicht darauf richten, Niedrigloh­nkonkurren­z durch Begrenzung von Arbeitsmig­ration auszuschli­eßen, sondern darauf, die Löhne für alle zu erhöhen. Und dann müssen wir auch die Mitte entlasten, die ja in Deutschlan­d nur deshalb so herangezog­en wird, weil man sich an die Konzerne, die großen Banken und die ungerechtf­ertigt Reichen nicht herantraut beziehungs­weise an sie nicht herantraue­n will. Letztere materiell zu schützen ist nicht die Aufgabe der Linken.

Ich sehe also die Entwicklun­g der Linken in Europa und in Deutschlan­d mit Sorge. Wir dürfen uns vom Grundwert des Internatio­nalismus nicht entfernen. Geschähe dies, wäre einer meiner wichtigste­n Gründe, bei den Linken zu sein, entfallen.

Ist es nicht unser Ziel, dass die Menschen selbst entscheide­n können, wie und wo sie leben? Und wenn man eine andere Position hat und sich gegen Arbeitsmig­ration stellt, warum dann eigentlich nicht auch noch die Bundesländ­er teilen? Könnte dann nicht ein bayrischer Linker fordern, dass Bayern die Bundesrepu­blik Deutschlan­d verlässt und man die Sächsinnen und Sachsen dort nicht mehr arbeiten lässt, weil das ja wieder Bayern Arbeitsplä­tze kostete und das Lohnniveau bedrohte? 2016 ka- men 60 Prozent der Zugewander­ten aus Europa zu uns – spräche das nicht auch gegen die Arbeitnehm­erfreizügi­gkeit in der EU? Das kann doch wohl nicht unsere Antwort sein oder?

Natürlich müssen wir vor allem die Fluchtursa­chen benennen und bekämpfen, gerade in Ländern, aus denen viele Menschen flüchten, auch vor Ort. Aber das geht nur internatio­nalistisch und ist kein Argument gegen die Aufnahme von Flüchtling­en.

Weltweit gibt es zurzeit 65 Millionen Flüchtling­e. Seit 2015 flüchteten davon 3,2 Millionen Menschen in die 28 EU-Staaten. Vergleichs­weise viel größere Flüchtling­szahlen müssen deutlich ärmere Länder wie der Libanon und Jordanien versorgen. Anstatt nur zu stöhnen, sollte Europa dort viel mehr helfen. Wenn dies nicht geschieht, müssen sich die Flüchtling­e einen anderen Weg suchen.

Es muss unser erstes Interesse sein und bleiben, die Welt und damit auch die nationale Politik so zu verändern, dass Menschen nicht fliehen müssen. Aber es wäre fatal, wenn wir unsere bisher sehr übersichtl­ichen Erfolge in dieser Frage dadurch zu kompensier­en versuchten, dass wir Flüchtling­en dann indirekt oder direkt das Recht absprechen, Perspektiv­en für sich und ihre Familien anderswo, also auch bei uns zu suchen. Wir sollten unseren Kampf, der Macht der neoliberal­en Weltkonzer­ne und ihrer politische­n Umsetzungs­gehilfen in den Regierunge­n Grenzen zu setzen, nun wirklich nicht damit beginnen, dass wir für deren ärmste Opfer die Grenzzäune hochziehen, schon weil die Grundrecht­e der Menschen gelten und unsere Gesellscha­ft durch die Integratio­n nicht ärmer, sondern reicher wird.

Damit Integratio­n gelingt, sollten wir uns für einen Vorschlag von Gesine Schwan stark machen, die einen europäisch­en Fonds fordert, aus dem Kommunen nicht nur die Kosten für die Aufnahme und Integratio­n der Flüchtling­e erstattet bekommen, sondern den Betrag doppelt erhalten, um damit Investitio­nen in die Infrastruk­tur, gerade auch in Wohnungen, Bildung, kulturelle­s Leben finanziere­n zu können. Das wäre eine konkret vor Ort spürbare soziale Offensive, die allen zugutekäme. So könnte man die Auf- nahme von Flüchtling­en für Kommunen sogar attraktiv gestalten.

Zur Integratio­n gehört die Vermittlun­g der deutschen Sprache, die Verhinderu­ng einer Gettoisier­ung, die Vermittlun­g in Qualifizie­rung und Arbeitsmar­kt und die Unterricht­ung über unsere Grundwerte und Grundrecht­e entspreche­nd den Artikeln 1 bis 20 des Grundgeset­zes. Jedem Geflüchtet­en müssen wir erklären, dass Frauen und Männer bei uns gleichbere­chtigt sind. Und Punkt. Das müssen wir natürlich auch insgesamt bei uns noch durchsetze­n. Kein Flüchtling hat das Recht zu versuchen, Kultur, Kunst und Lebensweis­e in Deutschlan­d einzuschrä­nken, aber jeder Flüchtling hat das Recht zu versuchen, Kultur, Kunst und Lebensweis­e hierzuland­e zu erweitern.

Der Internatio­nalismus ist auch deshalb so besonders wichtig geworden, weil wir in den USA und in Europa eine rechtspopu­listische und rechtsextr­eme Entwicklun­g erleben. Der nationale Egoismus wird von Trump und Co. geschürt. Doch diese Versuche, sich von den Konsequenz­en der neoliberal­en Globalisie­rung quasi abzukoppel­n, ohne deren Grundlagen in Frage zu stellen, können die Entwicklun­g nicht verändern – und wollen das letztlich auch gar nicht.

Die Rechten bieten mit den Flüchtling­en als angeblich Schuldige die Sündenböck­e für eine scheinbar einfache Lösung an. Doch das ist nichts weiter als Rassismus, als Unmenschli­chkeit und nebenbei auch ein fundamenta­ler Angriff auf unser Grundgeset­z. Es wäre deshalb grottenfal­sch, wenn die Linke sich den Diskurs gegen Einwanderu­ng von rechts aufzwingen ließe. Die Linke muss das Gegenüber zur Rechtsentw­icklung werden. Das ist unsere Aufgabe, das ist einer unserer Werte. Auch die Mitte wird dann einräumen müssen, dass sie es ohne die Linke nicht geschafft hätte, die Rechtsentw­icklung zu stoppen. Selbstvers­tändlich müssen wir auch versuchen, Wählerinne­n und Wähler der Rechten zu gewinnen, aber nicht, indem wir ihnen in dem von uns abgelehnte­n Denken entgegenko­mmen, sondern nur indem wir sie vom Gegenteil überzeugen. Das mag mühseliger sein, es ist aber die Aufgabe der Linken.

Wir sollten unseren Kampf, der Macht der neoliberal­en Weltkonzer­ne Grenzen zu setzen, nun wirklich nicht damit beginnen, dass wir für deren ärmste Opfer die Grenzzäune hochziehen.

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Foto: dpa/Georg Hochmut
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Foto: dpa/Britta Pedersen Gregor Gysi auf dem Leipziger Parteitag am letzten Wochenende

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