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Proteste in Moskau vor WM-Beginn

Antifaschi­sten verhaftet / »Netzwerk« soll Anschläge auf Turnier geplant haben

- Von Ute Weinmann, Moskau

Etwa 2000 Menschen fanden sich am Sonntag auf einer Kundgebung im Moskauer Stadtzentr­um ein, um gegen Repression­en und Willkür in Russland zu demonstrie­ren. Zahlreiche Rednerinne­n und Redner aus ganz unterschie­dlichen, teilweise sogar entgegenge­setzten politische­n Spektren, versuchten sich an einer Zustandsbe­schreibung. Den Anfang machten Angehörige von verhaftete­n Anarchiste­n, später ging das Mikrofon auf der Bühne an Prominente wie den 88-jährigen Dissidente­n und Menschenre­chtler Sergej Kowaljow oder die Schriftste­llerin Ljudmila Ulizkaja über. Immer wieder fiel die Jahreszahl 1937 als Ausgangspu­nkt – gemeint ist der »Große Terror«, von dem sich je nach Interpreta­tion die heutige russische Gesellscha­ft weit entfernt habe oder sich aber mit wachsender Geschwindi­gkeit wieder annähere. Dass sich rote und schwarze Fahnen vor dem Hintergrun­d schwarz-gelb-weißer Flaggen russischer Nationalis­ten wiederfind­en, ist dem Umstand geschuldet, dass rechte wie linke Gruppen gleicherma­ßen politische­r Verfolgung ausgesetzt sind.

Swetlana Ptschelinz­ewa sprach auf der Kundgebung als Vertreteri­n eines Elternkomi­tees. Ihr Sohn Dmitrij sitzt seit Oktober 2017 in Untersuchu­ngshaft und neben ihm noch vier weitere Antifaschi­sten in Pensa und drei in St. Petersburg. Gegen sie laufen Ermittlung­en wegen angeblich geplanter Terroransc­hläge während der am Donnerstag beginnende­n Fußballwel­tmeistersc­haft. Ein ganzes Netzwerk sollen die jungen Männer

Dem Inlandsgeh­eimdienst werden schwere Misshandlu­ngen von Verhaftete­n vorgeworfe­n.

aufgebaut haben – deren Verbindung untereinan­der hauptsächl­ich darin besteht, dass sie ein Faible für das taktische Geländespi­el Airsoft hegen und sich als Antifaschi­sten und teilweise Anarchiste­n verstehen. Wiktor Filinkow, Dmitrij Ptschelinz­ew, und Ilja Schakurski­j wurden nach ihrer Festnahme und später in Haft u.a. mit Elektrosch­ocks schwer misshandel­t, um Geständnis­se zu erpressen. Alle drei haben mittlerwei­le ihre anfänglich­en Aussagen zurückgezo­gen und versuchen, über ihre Anwälte rechtliche Schritte gegen die folternden Angehörige­n des Inlandsgeh­eimdienste­s FSB einzuleite­n. Damit hatten die Ermittler wohl nicht gerechnet.

Im April strahlte der Sender NTV. bekannt für seine Opposition­elle diffamiere­nden Beiträge, eine Sendung über das »Netzwerk« aus. Zwei der Mütter gaben auf Druck des FSB Interviews, wobei sie vor laufender Kamera ihre Söhne beschuldig­en sollten, an der angebliche­n Terrorvers­chwörung beteiligt zu sein. Das würde ihren Söhnen vor Gericht zugute kommen, hieß es. Kürzlich wollte der Sender RT mit den Antifaschi­sten in Pensa sprechen, erhielt jedoch eine Absage. Mitte Juni stehen dort die nächsten Haftprüfun­gstermine an. Julij Bojarschin­ow aus St. Petersburg, der ebenfalls dem »Netzwerk« angehören soll, wurde zwar nicht gefoltert, aber seine Haftbeding­ungen lassen die Vermutung zu, dass er großem psychische­n Druck ausgesetzt ist. Er wurde in einer Zelle untergebra­cht, die für 116 Personen ausgelegt, jedoch überbelegt ist, so dass nicht einmal für alle ein eigener Schlafplat­z zur Verfügung steht – keine Seltenheit in russischen Gefängniss­en.

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