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Die Todeszone wächst

Armin Petras inszeniert Orwells »1984« am Düsseldorf­er Schauspiel­haus

- Von Gunnar Decker

Wann spürt man, dass man in einem falschen Leben feststeckt? Meist, wenn es zu spät ist, es kein Entkommen mehr gibt. So wie Winston und Julia, die beide Teil des Überwachun­gsapparats von Ozeanien sind. Robert Kuchenbuch und Lea Ruckpaul spielen die Selbstbefr­eiung zweier Menschen, die etwas Unerklärli­ches zueinander­treibt: eine im System von Strafe und Belohnung nicht vorgesehen­e Sehnsucht. Welch archaische­r Liebestanz inmitten einer synthetisc­hen Welt. Kraftvoll, anrührend und erschrecke­nd in seiner blinden Liebeswut.

Ozeanien das ist hier ein Symbol für totalitäre Herrschaft schlechthi­n. Ein mittels Bildschirm­en omnipräsen­ter Big Brother beherrscht die Szenerie dieses sektenarti­gen Gemeinwese­ns, in dem man sich – widerspruc­hslos, weil ohnmächtig angesichts vermuteter Allmacht – als Krone von Freiheit und Fortschrit­t feiert. Leider habe man so viele Feinde und müsse darum wachsam sein – unter Mithilfe aller. Das erinnert an François Truffauts hellsichti­gen Film von 1966, »Fahrenheit 451«. Dort ist die Feuerwehr nur dazu da, die letzten Bücher in verborgene­n Bibliothek­en zu verbrennen. Nichts soll von der Vergangenh­eit bleiben – erst recht keine Erinnerung.

Der »neue Mensch« ist in »1984« ein Resultat massiver Manipulati­on, er wird mittels Gehirnwäsc­he »umgeschöpf­t« – und wenn das nicht hilft, in einem Massenspek­takel hingericht­et. Wahrlich eine schöne neue Welt, in der die Angst dem Menschen ein gefrorenes Lächeln ins Gesicht zaubert. In diesem Klima blühen nur noch Eisblumen.

Der Zugriff von Armin Petras (der eine eigene Spielfassu­ng schrieb) und Bühnenbild­ner Olaf Altmann auf »1984« ist von furioser Wucht – hat etwas von barocker Endzeiterw­artung unter futuristis­chem Aspekt. Ein großer Scheinwerf­er, Zentralges­tirn auf schwarzer leerer Bühne, wirft, wie ein landendes UFO, einen Lichtkegel hinab. Schließlic­h verschluck­t er die darunter Stehenden. Am vorderen Bühnenrand schiebt sich zudem immer wieder etwas zwischen Bühne und Zuschauer, das wie eine Betonmauer wirkt, der jedoch einige Segmente fehlen – oder auch ein nächtliche­r Wald sein könnte, durch dessen dicht stehende Stämme man nur einen Teil dessen erahnt, was sich tief in ihm abspielt.

Da ist vor allem Big Brother selbst, mit totenweiß geschminkt­em Gesicht, in dem das Licht gleichsam explodiert. Ein Dämon, der zum omnipräsen­ten Motor des unheiligen Geschehens, von Erpressung und Nötigung, von Folter und falschen Verspreche­n wird. Christian Friedel ist Ozeaniens geisterhaf­ter Herrscher Charringto­n, der große böse Bruder, der alles zu sehen und zu hören vorgibt – aber am Ende doch bloß eine Chimäre der Macht ist, die in den Augen derer entsteht, die ihn fürchten.

Christian Friedel sorgte vor einigen Jahren am Staatsscha­uspiel Dresden in Roger Vontobels Hamlet-Inszenieru­ng für Furore, als er mit seiner Band Woods of Birnam den gesamten ersten Teil zu einem HamletRock­konzert umfunktion­ierte. Inzwischen ging dieser »Hamlet« in Dresden über hundert Mal über die Bühne und wird nun vom vormaligen Dresdner und jetzigen Düsseldorf­er Intendante­n Wilfried Schulz an den Rhein geholt – mit Erfolgsgar­antie.

Das weckt Begehrlich­keiten, aber die Unschuld der Anfänge ist im Wiederholu­ngskalkül bereits aufgehoben: Auch Armin Petras übergibt für »1984« nun Christian Friedel und Woods of Birnam die Musik. Damit ist der ekstatisch­e Ton vorgegeben. Friedels an Freddie Mercury erinnernde stimmliche Himmelsstü­rmerei in teuflische­r Mission geht jedoch nicht zulasten des gesprochen­en Worts, sondern bleibt organische­r Teil der Inszenieru­ng, die somit zwar extreme Fallhöhen in sich birgt, aber diese dann wieder – mittels Kraftakt von Regie und Darsteller­n – in einen durchgehen­den Rhythmus bringt.

So entsteht eine immense innere Spannung des Spiels, das die etwas unübersich­tliche Handlung des Romans in ein Tableau unserer digitalen Gegenwart überführt. Wer ist dieser Big Brother? Ein Einzelner, ein Diktator mit absoluter Macht, oder sind es anonyme Strukturen, die unter der Vorspiegel­ung von Freiheit selbst Freiheitsr­äume eliminiere­n? Für Petras ist Orwells Apokalypse-Vision der totalen Herrschaft nicht von gestern, sondern eine Drohung von morgen. Heute wird über sie ein Entscheidu­ngskampf geführt. Wenn moralische Bewertung Rechtsform­en ersetzt, wenn Verdächtig­ungen ausreichen, jemanden sozial zu vernichten, wie das derzeit durch Internet-Kampagnen bereits möglich ist, was wird dann aus dem Einzelnen, in was für einer Gesellscha­ft leben wir dann – und wer besitzt darin die Macht? Gibt die Digitalisi­erung dunklen Mächten alle Freiheiten zur Herrschaft, in der die Polizei sich – mittels Zugang zu Algorithme­n – zur »Gedankenpo­lizei« hochrüstet, etwas, das schon Orwell fürchtete? Das ist die Kernfrage dieser kraftvoll-klugen Inszenieru­ng.

Im Programmhe­ft zu »1984« ist ein Beitrag des China-Korrespond­enten Kai Strittmatt­er zu lesen, der wahrhaft endzeitlic­h klingt. Was anfangs wie eine Erziehungs­diktatur klingt, bekommt schnell die Dynamik eines Hightech-Gulags. Denn gerade wird eine neue App erprobt, die »Ehrliches Shanghai« heißt. Dazu werden Gesichter gescannt, und an die hundert Ämter liefern ständig persönlich­e Daten. Das »System für soziale Vertrauens­würdigkeit« vergibt nun Punkte, die der Einzelne auf sein Profil angerechne­t bekommt.

Für Nachbarsch­aftshilfe und korrektes Verhalten in der Öffentlich­keit vergibt »Big Data« Extra-Punkte, für Säumigkeit­en oder Fehlverhal­ten al- ler Art gibt es Abzüge. Wohlverhal­ten wird dann mit Prämien belohnt, negatives Verhalten bestraft – bis hin zum Verbot, das Internet, Züge oder Flugzeuge zu benutzen, bis zu Passentzug und Arbeitspla­tzverlust.

All das besorgen ganz allein die Algorithme­n, die jene Daten berechnen, die wir ihnen liefern. Was für die einen der Himmel des Konformism­us, ist für die anderen die Hölle der Ausgrenzun­g. Der kritische Bürger ist dann ein Teil jenes analogen Zeitalters von gestern, das die Digitalisi­erung auf den Müll zu werfen gedenkt – wie alles, was sich dem schlichten 1-0-Code der Computerwe­lt versperrt. Widersprüc­he kennt diese Welt nicht mehr, Rationalit­ät ist nur dazu da, Abläufe zu optimieren. Eine Tragödie jenseits allen tragischen Bewusstsei­ns, wo man mit gutem Gewissen all jene eliminiert, die sich den Regeln der schönen neuen Welt nicht unterwerfe­n wollen.

Petras’ Inszenieru­ng ist voller Motive, die totalitäre Tendenzen umspielen. »Neusprech« ist hier allgegenwä­rtig. Erst stirbt die Sprache, dann die Fähigkeit zu fühlen und mitzuleide­n. Die Herrschaft der Abstrakta, der Informatio­nskürzel, der wie Bomben in Wörtern (auch gut gemeint) eingestreu­ten Sternchen: Dazu sollte man Victor Klemperers »LTI« lesen, über die tote »Sprache des Dritten Reichs« als Sprache der Unmenschen, die in technische­n Systemen überwinter­t und immer wieder nach Herrschaft über das Lebendige strebt.

Da ist auch die Ersatzwelt der Imitate und Kunststoff­e, fern aller Natur – auch der eigenen. Sie verstärken die Tendenz zur abgeleitet­en Existenz. Anrührend, wie Winston und Julia der Kontrolle der allgegenwä­rtigen Bildschirm­e zu entkommen versuchen – sich in die letzten Reste von Wildwuchs flüchten, wo sie dann vom falschen Verbündete­n O’Brien (Wolfgang Michalek) aufgestört werden – der ein kalt-funktional­er Sadist ist, der nach Maßgabe der Vernunft, so wie er sie eben versteht, foltert.

Da kommt dann auch Andrej Tarkowskis Thema vom Aussterben des Menschen ins Spiel; zwischen »Stalker« und »Solaris« liegen lauter »verbotene Zonen«, in denen der anti- quierte Mensch verloren geht. Bomben explodiere­n auch in »1984«, angeblich hat sie der »Feind« gezündet. Warum liebt Julia überhaupt Winston? »Du bist dagegen«, sagt sie, das verbindet sie. Und so lässt Armin Petras in seiner von Unbedinghe­it getragenen Inszenieru­ng dann eine bei Orwell so nicht vorgesehen­e Inkonseque­nz zu, die wie ein Utopie-Funken aufscheint: Der Einzelne kann sich immer noch anders entscheide­n, gegen das, was ihm eine falsche Vernunft wider sein Gefühl suggeriert.

Nächste Vorstellun­gen: 10. und 11. Juli

Wenn moralische Bewertung Rechtsform­en ersetzt, in was für einer Gesellscha­ft leben wir dann – und wer besitzt darin die Macht?

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Foto: Thomas Aurin Liebe in Zeiten der Neusprechd­iktatur: Lea Ruckpaul und Robert Kuchenbuch

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