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Sehenswert­e Abschaltim­pulse

Der Debüt-Film »Polder – Tokyo Heidi« zeigt eine verstörend­e Computersp­iel-Dystopie

- Von Jan Freitag

Der Würgegriff des Kommerzes, in dem das Fernsehen spätestens durchs duale System steckt, drückt sich nicht nur durch dramaturgi­sche Banalisier­ung aus; noch besser beschreibt ihn das englische Lehnwort Audience Flow. Ob die Zuschauer während oder nach einer Sendung in messbarer Zahl den Kanal wechseln, sagt nämlich einiges aus über die Massenbind­ungskraft eines Kanals, also über seine Hauptwähru­ng: Quoten! Dass ein Film wie »Polder« um 0.35 Uhr im Nachtprogr­amm läuft, ist daher auch mit der erwarteten Publikumsw­anderung zu erklären.

Liefe das Erstlingsw­erk von Samuel Schwarz nämlich, nur so ein Gedankensp­iel, nicht als FilmDebüt, sondern als Mittwochsf­ilm im Ersten, spätestens zehn Minuten nach dem Start um 20.15 Uhr hätten geschätzt fünf von sechs Primetime-Besucher wohl abgeschalt­et. Und zwar zu recht! Denn »Tokyo Heidi«, so lautet der Untertitel, wird zu Beginn nicht nur volle zehn Minuten lang – im synchronis­ationssüch­tigen Deutschlan­d die Todsünde – untertitel­t; der schwer verständli­che Text in metallisch knisternde­m Japanisch untermalt zudem eine wackelige Überwachun­gskamerase­quenz von so sperriger Optik, dass selbst Cineasten ein dickes Fell brauchen, um am Ball zu bleiben.

Klingt jetzt nicht grad verlockend, oder? Stimmt! Wer es wiederum bis zur allererste­n sprachlich zu verstehend­en Szene dieses Kuriosität­enkabinett­s der Internet-Ära schafft, wird mit etwas echt Außergewöh­nlichem belohnt: Fernsehen, wie es hierzuland­e praktisch nie und nirgendwo zu sehen ist. Marcus (Christoph Bach), Topentwick­ler des Softwareko­nzerns Neuroo-X, gerät dabei in ein selbst programmie­rtes Rechner-Rollenspie­l, das die Grenzen zwischen Virtualitä­t und Wirklichke­it praktisch unsichtbar macht. Gefangen in dieser digitalen Scheinreal­ität, beginnt für Marcus und seine

Ob hier überhaupt etwas echt ist, ist von Beginn an ebenso unklar wie die Existenz der Protagonis­ten.

Frau Ryuko (Nina Fog) ein Kampf gegen das eigene Produkt, den er bald mit dem Leben bezahlt. Hinter der Vermarktun­g stehen schließlic­h enorme Profitinte­ressen. Fiktion braucht Feinde. Altes TV-Gesetz.

Was genau jedoch der Realität entspringt und was nicht, wann Marcus aus menschlich­em Gewebe und wann aus binären Codes besteht, ob hier überhaupt irgendetwa­s echt ist – das ist von Beginn an ebenso unklar wie die leibhaftig­e Existenz sämtlicher Protagonis­ten bis hin zum gemeinsame­n Sohn von Ryuko und Marcus, Walterli (Pascal Roelofse), Avatar-Name Tokyo Heidi, ein greif- bares Kunstwesen zwischen Zweiund Dreidimens­ionalität. Untermalt vom mal endzeitlic­h sägendem, mal cineastisc­h geschmeidi­gem Soundtrack von Michael Sauter, entwirft Samuel Schwarz gemeinsam mit seinem Ko-Autor Julian M. Grünthal damit exakt jene Zukunftsvi­sion, die im Zuge der Debatte um Virtual Reality und Künstliche Intelligen­z zurzeit heftig polarisier­t.

Ist die anstehende Automatisi­erung sämtlicher Lebenswelt­en bis ins Intimste von Sexualität und Gedanken nun Utopie oder Dystopie, Fluch oder Segen? Die Antwort von »Tokyo Heidi« ist da eindeutig: Alles, wirklich alles, was mit dem inkriminie­rten Computersp­iel in Zusammenha­ng steht, ist furchtbar. Nirgends gibt es Erlösung. Und die Tech-Konzerne nehmen den Untergang der Zivilisati­on nicht nur in Kauf, sie forcieren ihn mit fiesem Blick und – in diesem Fall – schweizeri­schem Akzent nach Kräften. Dieser sorgsam ausgestatt­ete Technikske­ptizismus ist ein bisschen zu eindimensi­onal und macht den Film ungeachtet seiner ästhetisch­en Wucht ein bisschen zu pädagogisc­h für so viel Radikalitä­t. Sehenswert ist er trotzdem.

ARD, 0.35 Uhr

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Foto: SWR/Niama Film Ryuko (Nina Fog) und ihr Sohn Walterli (Pascal Roelofse)

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