Suche nach Volksnähe
Stuhlkreis, Küchentisch und Bürgerbrief: Sachsens Politik versucht, mit den Bürgern ins Gespräch zu kommen
Spitzenpolitiker in Sachsen suchen das Gespräch mit den Bürgern.
Eine wachsende Entfremdung zwischen Bevölkerung und Politik ließ Pegida und die AfD in Sachsen groß werden. Jetzt suchen Politiker das Gespräch mit Bürgern – und haben die Landtagswahl 2019 im Blick.
Im Foyer hängen Plakate: Olaf Schubert und Wolfgang Lippert kommen; auch eine Ü-30-Party wird angekündigt. Ein buntes Plakat, das vielleicht »Michael Kretschmer & Friends« avisieren würde, sucht man im »Tivoli« vergebens. Und doch ist der Mann, dem an diesem Abend die Bühne des Freiberger Kulturhauses gehört, kein Komiker oder Entertainer, sondern der erste Politiker im Freistaat. Unter einem Kronleuchter und hinter halb geöffnetem rotem Samtvorhang sitzt: der sächsische Ministerpräsident.
Allerdings gehört Kretschmer die Bühne nicht allein. Er sitzt – für einen konservativen Politiker ein kurioses Format – in einem Stuhlkreis. Um ihn herum: Freiberger Bürger, die der Einladung der Regierung zum »Sachsen-Gespräch« gefolgt sind. In »ungezwungener Atmosphäre«, so hatte es eingangs der Landrat betont, wolle man ins Gespräch kommen. Es gehe darum, »was uns bewegt und was wir bewegen wollen«. Nicht nur der Regierungschef stellt sich den Fragen und Meinungen von immerhin 400 Anwesenden. Im großen Saal mit den glitzernden Diskokugeln an der Decke sowie auf der Empore und in einer angrenzenden Gaststätte stehen weitere Tische, an denen sich sechs Minister und zwei Staatssekretäre aus nahezu allen Ressorts verteilt haben. Kaum ist nach kurzer Vorstellung die Gesprächsrunde freigegeben, bilden sich vor allem um die Minister für Kultus und Inneres dichte Trauben. Nur ein Abteilungsleiter aus dem Ressort für Integration hat viel Zeit, an seinem Wasser zu nippen.
Wer den Abend im »Tivoli« beobachtet, gewinnt den Eindruck, dass in Sachsens Regierungszentrale ein Lied von Gerhard Schöne als Inspiration gedient hat. Darin besang der Liedermacher eine Szene, die der im Freiberger Ballhaus verblüffend ähnelt: einen Regierungsstab, der »ohne Zeremonienkram« die Bühne betrat; einen »ersten Mann im Staate«, der kundtut, er sei »auf alle Fragen nun gespannt«. Das finde »immer wieder statt, und jeder darf da rein«, sang Schöne – »und keine Frage ist zu heiß, und kein Problem zu klein«. Der Titel des Liedes: »Mit dem Gesicht zum Volke«.
Schöne schrieb das Lied im Jahr 1988, als in seinem Heimatland DDR die Kluft zwischen Politik und Bürgern unüberbrückbar tief geworden war und viele nicht den Eindruck hatten, unverblümte Fragen seien erwünscht; wer sie doch stellte, wurde gemaßregelt. Dass es auch anders gehen kann, hatte der Liedermacher im lateinamerikanischen Nicaragua erlebt, wo eine sozialistische Regierung zu Versammlungen lud, die »Mit dem Gesicht zum Volke« hießen.
Seither sind 30 Jahre vergangen. In Nicaragua haben sich Träume von einst zerschlagen. Im heutigen Heimatland des Liedermachers hat sich indes ebenfalls erneut die Ansicht breitgemacht, dass Politik und Bürger in unterschiedlichen Sphären leben und unverblümte Fragen nicht erwünscht seien. Zwar wird, wer sie dennoch stellt, nicht geschurigelt. Die Distanz zu Politikern und zur von diesen repräsentierten Demokratie aber ist enorm. 68 Prozent der Sachsen, so zeigte der »Sachsen-Monitor 2017«, sind überzeugt, dass »Leute wie ich so oder so keinen Einfluss« auf das Handeln der Regierung haben; fast drei Viertel der Befragten geben an, Politiker seien an Stimmen der Wähler, nicht aber an deren Ansichten interessiert. Der Befund sei »eindeutig«, so die Studie: Das »Vertrauen in Redlichkeit, Volkszugewandtheit und Gemeinwohlorientierung der politischen Akteure« sei »sehr gering«.
Die Folgen für das politische Gemeinwesen sind verheerend. Wahlen wie die des Landtags 2014 animieren weniger als die Hälfte der Bürger zur Teilnahme. Viele derer, die ihre Stimme doch abgeben, betrauen damit eine Partei wie die AfD, die explizit erklärt, es »denen da oben« zeigen und die »Altparteien« auf Trab bringen zu wollen. Bei der Bundestagswahl 2017 wurden die Rechtspopulisten im Freistaat stärkste Partei und überholten die seit 27 Jahren regierende CDU. Es war der zweite Schock nach dem von 2015, als in Dresden urplötzlich Zigtausende an den »Spaziergängen« von Pegida teilnahmen und der Politik im Wortsinn die kalte Schulter zeigten.
Damals gab es erste Anläufe, zum Dialog einzuladen: Foren, die freilich eher verkrampft wirkten; mit einem Regierungschef, der noch Stanislaw Tillich hieß und direkten Bürgerkon- takt als eher schwierige Übung zu empfinden schien. Kretschmer dagegen, der Tillich 2017 nach der Pleite für Sachsens CDU abgelöst hat und eine Wiederholung bei der Landtagswahl 2019 verhindern soll, ist bei Veranstaltungen wie im »Tivoli« in seinem Element. »Na, wo klemmt die Säge?«, fragt er forsch – und fügt ein Bekenntnis an: In den Hochzeiten von Pegida habe man erbosten Bürgern zu oft »unlautere Dinge« unterstellt, was Dialog unmöglich gemacht habe. Das sei »ein Fehler« gewesen, sagt er und betont, zu ihm könne »jeder« kommen: »Ich will das anders machen.«
Kretschmer ist längst nicht der einzige sächsische Politiker, der das »Gesicht zum Volke« gewendet hat. Anderer Ort, ähnliche Szene: der »Große Lindensaal« im Rathaus von Markleeberg. An der Decke edle Jugendstil-Leuchter, um die Bühne rötliches Licht, im Parkett knapp 150 Menschen an Tafeln. Sie stehen rund um ein Möbel, das in Sachsen mittlerweile so bekannt sein dürfte wie sein Besitzer: der Küchentisch von SPDLandeschef Martin Dulig. An Küchentischen gebe es die besten Unterhaltungen, sagte der Vater von sechs Kindern im Wahlkampf 2014 und lud bereits damals Bürger zum Dialog an das wuchtige Möbelstück ein. Nach der Wahl ging die SPD in eine Koalition mit der CDU – und Dulig als VizeRegierungschef weiter auf Tour mit dem Tisch. In Markleeberg macht er bereits zum 41. Mal Station. Jeder, der etwas sagen will, kann sich zu ihm an den Tisch setzen und Fragen oder Meinungen äußern.
Andere kommen an den Küchenoder Stubentisch der Bürger – wenn diese das wünschen. Rico Gebhardt, Chef der Linksfraktion im Landtag, bot das an: in einem Brief, der im Frühjahr an 1,9 Millionen Haushalte verschickt wurde. »Lassen Sie uns ins Gespräch kommen«, hieß es in dem Schreiben, gern »auch mal bei Ihnen vor Ort«. Viele Bürger, sagt Gebhardt auf Nachfrage, gingen »nicht gern zu politischen Veranstaltungen«. Zudem erreiche ein Brief auch die Bürger in kleinen Dörfern, während die Runden der Regierung oder der SPD allenfalls in Kleinstädten stattfänden. »Die Hürden, dort hinzufahren, sind für viele recht hoch.«
Allerdings: Die Lust, auf den Brief eines Politikers zu antworten, scheint ebenfalls überschaubar. Nur 282 Bürger antworteten – 0,015 Prozent der Angeschriebenen. Immerhin überwogen die positiven Reaktionen, sagt Gebhardt, auch wenn Asyl das dominierende Thema war und die LINKE für ihre Haltung oft angefeindet wird. In einem Fall wurde Gebhardt freilich auch ein 60 Seiten langer Entwurf für ein Wahlprogramm geschickt. Oft habe es zudem geheißen: Es sei das erste Mal, dass uns jemand anhört. In 30 Fällen wurde er zu einem, wie er es nennt, »Wohnzimmergespräch« eingeladen, zum Beispiel zu Gabriele Loßnitzer und Gunther Bartel, einem Künstlerpaar, das in dem winzigen Dorf Schönfeld im Osterzgebirge eine Galerie betreibt.
Viel Werbung musste der Politiker dort freilich nicht betreiben – weder für seine Partei noch für die Politik als solche. Beide bezeichnen sich als links; auf einen Brief von der FDP hätte er »ganz bestimmt nicht« geantwortet, sagt Bartel. Beide sind politisch sehr interessiert, egal ob es um Landraub in Entwicklungsländern geht oder den vernachlässigten ländlichen Raum in Sachsen, den sie aus erster Hand erleben: kein Laden, keine Tankstelle, kein Interesse für Kultur und Kunst. Bartel, der mit seinem wallenden Bart wie ein Verschnitt aus Harry Rowohlt und Karl Marx wirkt, sagt, es sei ihm ein Rätsel, warum angesichts von sozialer Spaltung und Rechtsruck die LINKE »nicht mehr Stimmen holt«. Er räumt auch ein, er habe Politiker bislang vorwiegend als »geltungsbedürftige Psychopathen« angesehen. Gebhardts Besuch habe ihm gezeigt, dass es auch andere gibt.
Die Bürger erleben zu lassen, dass auch Politiker Menschen sind – das ist ein Effekt des Dialogs zwischen beiden, der in Sachsen in Gang kommt. Zu merken, dass kritische Fragen und Meinungen einerseits erwünscht sind, andererseits aber nicht unwidersprochen bleiben müssen, ist ein weiterer. Es ist ein Prozess politischer Bildung für beide Seiten. Die Runde am Küchentisch sei »ein ehrliches Format«, sagt die Moderatorin. »Hier«, sagt Dulig, »passiert es ungefiltert.«
Was das bedeuten kann, erlebten er und andere Regierungsmitglieder vor allem beim ersten »Sachsen-Gespräch«, das im März im erzgebirgischen Aue stattfand. Damals gab es hitzige Debatten um die Asylpolitik. Kretschmer und seine Minister wurden hart angegangen; Beobachter hatten den Eindruck, die AfD habe gezielt mobilisiert. Drei Monate später ist die Stimmung weniger hitzig, nicht nur an Duligs Küchentisch, wo per Handzettel auf Grundregeln hingewiesen wird. »Es redet immer nur einer«, steht da etwa; Beleidigungen hätten zu unterbleiben. Auch im »Tivoli« in Freiberg werden die Ansichten zwar freimütig geäußert, in Rage aber redet sich niemand mehr.
Es ist, sagt Dulig, ein wohltuender Unterschied zum Ton, der in sozialen Netzwerken im Internet herrsche, wo »Hemmungen wegfallen, weil man ja sein Gegenüber nicht sieht«. Der SPDMann hofft, dass es gelingen kann, die »Sprachlosigkeit« zwischen Bürgern und Politik zu »überwinden«. Auch Kretschmer gibt sich überzeugt, dass der ungeschminkte Dialog dazu beitragen kann, »eine andere Stimmung im Land zu erzeugen«. Die Mehrzahl der Sachsen, glaubt er, »steht fest für unsere Werte«. Gebhardt wiederum hofft, dass Bürgergespräche das Verständnis dafür befördern, dass Politik stets Kompromiss bedeutet. In der von Kretschmer ausgesandten Botschaft, dass die Regierung und ihr Chef persönlich sich schon kümmern werden, sieht er freilich auch eine »gewisse Gefahr«, fügt der LINKE an: »Was ist, wenn er bis zur Wahl 2019 nicht liefern kann? Dann wird es scheitern.«
Dulig tritt deshalb vorsichtig auf die Bremse. Bürger dürften »nicht alles nur von Staat und Politik erwarten«, sagt der SPD-Mann. Das gelte im Übrigen auch für die Einladung zu Gesprächen über Politik. »Engagiert euch!«, sagt er zum Abschluss der Markleeberger Runde – und gibt den Gästen mit auf den Weg: »Nicht nur ich habe einen Küchentisch!«
Die Bürger erleben zu lassen, dass auch Politiker Menschen sind – das ist ein Effekt des Dialogs zwischen beiden, der in Sachsen in Gang kommt. Zu merken, dass kritische Fragen und Meinungen einerseits erwünscht sind, andererseits aber nicht unwidersprochen bleiben müssen, ist ein weiterer.