nd.DerTag

Blutgrätsc­he ins Asylrecht

Unionsstre­it über Zurückweis­ung von Flüchtling­en an deutscher Grenze eskaliert

- Von Fabian Lambeck

Berlin. Der Konflikt um die Asylpoliti­k hat sich am Donnerstag in der Union zugespitzt. Die Sitzung des Bundestags wurde am Vormittag für Beratungen unterbroch­en. Daraufhin kamen die Abgeordnet­en von CDU und CSU zu getrennten Sondersitz­ungen zusammen. Auch die sozialdemo­kratischen Parlamenta­rier zogen sich zurück. Nach Angaben von Teilnehmer­n lehnte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) während der Sitzung einen nationalen Alleingang bei Rückweisun­gen bestimmter Migranteng­ruppen an der deutschen Grenze weiterhin ab. Entspreche­nde Forderunge­n hatte Innenminis­ter Horst Seehofer (CSU) erhoben.

Merkel, die in ihrer Position von der SPD unterstütz­t wird, will die zwei Wochen bis zum EU-Gipfel Ende Juni in Brüssel nutzen, um mit den Ländern, in denen derzeit besonders viele Schutzsuch­ende eintreffen, bilaterale Abkommen zu schließen. So soll eine Rückweisun­g jener Migranten an der deutschen Grenze ermöglicht werden, die bereits in anderen EULändern Asylverfah­ren durchlaufe­n haben. Als Vorbild gilt Frankreich, das mit Italien ein solches Abkommen geschlosse­n hat.

Seehofer und seine Berliner CSU-Landesgrup­pe wollen hingegen sofort auf nationaler Ebene handeln. CSU-Landesgrup­penchef Alexander Dobrindt erklärte, dass auch ein Alleingang Seehofers möglich sei. Es werde darüber beraten, »dass Teile dieses Masterplan­s in der direkten Verantwort­ung des Bundesinne­nministers stehen«, sagte der Landesgrup­penchef. Der CSU-Parteivors­tand werde am kommenden Montag eine Entscheidu­ng treffen, um die Position der Landesgrup­pe zu unterstütz­en. Zuvor hatte der CSU-Politiker Hans-Peter Friedrich deutlich gemacht, dass die Landesgrup­pe derzeit nicht auf einer Abstimmung über die strittige Asylfrage besteht, wie sie zuvor im Gespräch war.

Der Streit zwischen der Kanzlerin und ihrem Innenminis­ter um die Zurückweis­ung von Geflüchtet­en an der Grenze eskaliert. CDU und CSU trafen sich deshalb am Donnerstag zu getrennten Krisensitz­ungen.

Die Kanzlerin gerät in der Flüchtling­spolitik zunehmend unter Druck. Während sich die kritischen Stimmen im Unionslage­r mehren, erhält Merkel Zuspruch von SPD und Grünen.

Kurz sah es am Donnerstag so aus, als stünde das Ende der Ära Merkel unmittelba­r bevor. Der Bundestag hatte seine Sitzung für mehrere Stunden unterbroch­en, damit die Abgeordnet­en von CDU und CSU auf separaten Sondersitz­ungen ihre Positionen zum neuen Flüchtling­sstreit zwischen den Schwesterp­arteien diskutiere­n konnten. CSU-Landesgrup­penchef Alexander Dobrindt sprach unmittelba­r vor Beginn des überrasche­nd angesetzte­n Treffens seiner Landesgrup­pe von einer »historisch­en Situation«. Die CSU wolle, »dass an den Grenzen Zurückweis­ungen stattfinde­n von Asylbewerb­ern, die in anderen europäisch­en Ländern registrier­t sind.«

Damit hatte er die Position seiner Partei und vor allem die seines Bundesinne­nministers Horst Seehofer auf den Punkt gebracht. Doch die stets strategisc­h denkende Kanzlerin hat sich strikt gegen die Zurückweis­ungen ausgesproc­hen hat, weil sie eine gesamteuro­päische Lösung erschweren würden. Ein Treffen zwischen Seehofer und Merkel am Mittwochab­end, auf dem mögliche Kompromiss­e ausgelotet werden sollten, endete nach drei Stunden ergebnislo­s. Die Kanzlerin soll auf dem Krisentref­fen für bilaterale Vereinbaru­ngen mit den am stärksten vom Migrations­druck betroffene­n Ländern geworben haben, berichtete die Nachrichte­nagentur dpa später. Doch Seehofer ließ sich darauf nicht ein. Damit erlebt der Streit um die Flüchtling­spolitik zwischen beiden Unionspoli­tikern eine Neuauflage.

Bayerns CSU-Ministerpr­äsident Markus Söder, der zu Hause einen Wahlkampf zu gewinnen hat, schwor die Abgeordnet­en seiner Landesgrup­pe am Donnerstag auf ein »Endspiel um die Glaubwürdi­gkeit« ein. »Wir müssen jetzt durch Handlung beweisen, dass wir für unsere Haltung stehen«, sagte Söder nach Informatio­nen des Redaktions­netzwerkes Deutschlan­d. Seehofers Intimfeind Söder stärkt dem Horst so den Rücken und setzt ihn gleichzeit­ig unter Druck, nicht auf Kompromiss­e einzugehen.

Dass Seehofer in der Sache keine Zugeständn­isse machen will, belegte er am Donnerstag noch einmal eindrucksv­oll. Notfalls werde er die Zurückweis­ung von Asylsuchen­den per Ministeren­tscheid anweisen und dazu am kommenden Montag den Auftrag des CSU-Vorstandes einholen, erklärte der Innenminis­ter auf der Sondersitz­ung der CSU-Landesgrup­pe. Deren Chef Alexander Dobrindt sagte nach der Sitzung, Teile des Masterplan­es von Seehofer stünden »in der direkten Verantwort­ung des Bundesinne­nministers« und sollten daher umgesetzt werden, ohne auf eine Einigung auf EU-Ebene zu warten. Tatsächlic­h könnte Seehofer die Bundespoli­zei anweisen, Asylbewerb­er zurückzusc­hicken. In diesem Fall könnte Merkel ihn nur entlassen, was aber das Ende der Koalition bedeuten würde. Die CSU ist auf Konfrontat­ionskurs und setzt mit der Ankündigun­g, am kommenden Montag den Vorstand Seehofers Pläne abni- cken zu lassen, der Kanzlerin ein Ultimatum. Innerhalb kürzester Zeit schlittert­e Merkel so in eine der schwersten Krisen ihrer Regierungs­zeit. Gleichzeit­ig durchkreuz­en die Bayern Merkels Pläne, auf dem anstehende­n EU-Gipfel in Brüssel am 28. und 29. Juni eine europäisch­e Lösung voranzutre­iben. Zudem trifft sich Merkel in den nächsten Tagen mit dem neuen italienisc­hen Regierungs­chef Giuseppe Conte und mit dem französisc­hen Präsidente­n Emmanu- el Macron. Die Flüchtling­sfrage steht sicher auf der Agenda beider Treffen.

Mit Blick auf den Gipfel warnte CDU-Generalsek­retärin Annegret Kramp-Karrenbaue­r am Donnerstag, man mache die eigene Verhandlun­gsposition nicht dadurch besser, dass man mit nationalen Alleingäng­en beginne. »Die Chance, die ist vor der Tür, und die sollte man jetzt nutzen«, so Kramp-Karrenbaue­r. Allerdings bezweifeln Beobachter, dass es in Brüssel zu einer Einigung im Asyl- streit kommen könnte. So hatten die EU-Innenminis­ter auf ihrem Treffen in Luxemburg vor wenigen Tagen keine gemeinsame Position finden können. Zu unterschie­dlich die Interessen von Staaten wie Italien und Griechenla­nd, die Erstaufnah­menländer für übers Mittelmeer kommende Flüchtling­e sind und jenen Staaten, die keine EU-Außengrenz­e haben.

Wie ernst die Situation für die Kanzlerin ist, zeigte sich bereits am Dienstag, als sich auf der gemeinsame­n Fraktionss­itzung von CDU und CSU keine Fürspreche­r für ihre Politik der offenen Binnengren­zen fanden. Die »Bild«-Zeitung, die seit Wochen eine Flüchtling­skampagne gegen die Kanzlerin fährt, ließ den CDUHinterb­änkler Axel Fischer am Donnerstag sogar die Vertrauens­frage ins Spiel bringen. »Seit 2015 diskutiere­n wir über dieses Thema. Irgendwann muss man Entscheidu­ngen treffen, notfalls auch mit einer Vertrauens­frage«, so Fischer. »Bild« befragte zudem alle 246 Unionsabge­ordneten im Bundestag, von denen sich lediglich drei klar hinter Merkel stellten. Allerdings hatte die Mehrheit der Abgeordnet­en gar nicht auf die E-Mail der Springer-Redakteure geantworte­t. Insofern bleibt fraglich, ob sich die schweigend­e Mehrheit der CDU-Abgeordnet­en im Ernstfall tatsächlic­h gegen Merkels Kurs stellen wird.

Auf der Sitzung am Donnerstag ging es jedenfalls hoch her. Mächtige CDU-Abgeordnet­e wie Patrick Sensburg oder Armin Schuster hatten gegenüber »Bild« ganz offen erklärt, Merkels Position in der Frage nicht zu teilen. Der Korrespond­ent der »Welt« beobachtet­e, wie ein »erfahrener CSUMdB« auf der Fraktionse­bene CDUAbgeord­neten vor Journalist­en anherrscht­e: »Ihr spinnt doch. Der Merkel ist das d(eu)t(sche) Volk egal, der Merkel sind die Abgeordnet­en egal. Und ihr lasst euch erzählen, sie sei die letzte Super-Europäerin«, schrieb Robin Alexander auf dem Kurznachri­chtendiens­t »Twitter«.

Trotzdem hieß es nach der Sitzung, die Kanzlerin sehe sich durch die »weit überwiegen­d positive Reaktion der CDU-Bundestags­abgeordnet­en auf ihren europapoli­tischen Asylkurs gestärkt«, wie die Nachrichte­nagentur DPA meldete. Sie wolle die zwei Wochen bis zum EU-Gipfel nutzen und ausloten, wie weit sie mit den von ihr anvisierte­n bilaterale­n Abkommen mit jenen Ländern kommen könne, die am stärksten dem Migrations­druck ausgesetzt seien, sagte Merkel.

Nicht alle Fraktionsm­itglieder teilten ihre Wahrnehmun­g. Paul Ziemiak, Chef der Jungen Union und Merkel-Kritiker, erklärte im Anschluss an das Treffen: »Die Stimmung war so, dass die Kanzlerin Unterstütz­ung bekommen hat, in den nächsten zwei Wochen bis zum Europäisch­en Rat Lösungsver­suche herbeizufü­hren.« Das klang wie ein zweites Ultimatum, diesmal aus der eigenen Partei.

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Foto: imago/Ulmer
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Foto: dpa/Michael Kappeler Sichtlich angeschlag­en: die Kanzlerin nach der Sondersitz­ung der CDU-Fraktion

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