nd.DerTag

Die Fans machen den Auftakt

Der nd-Reporter verliert ein Länderspie­l

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Ach du Scheiße, worauf habe ich mich denn da eingelasse­n? Ich stehe neben dem Rasen des altehrwürd­igen Streltsow-Stadions in Moskau. Vor zwei Stunden hat mich ein Bekannter von der russischen Fanbotscha­ft angerufen, ob ich nicht einspringe­n könne – als Fußballer. Ein lange geplantes Freundscha­ftsspiel zwischen einer russischen Auswahl der »Boleltschi­ki« (Fans) und saudischen Fußballanh­ängern, quasi das Eröffnungs­match der Fans, ist vor drei Stunden von den Saudis abgesagt worden. Ihr Kronprinz kommt nach Moskau, den müssen sie überrasche­nd jetzt treffen.

Im hastig organisier­ten Ersatzteam kicken nun ich, Volkan, ein türkischer Journalist aus Köln, Denis, 17, aus Moskau (Bekannter von Volkan), die Engländer George und Tim sowie ein US-Amerikaner namens Heath. Das Trio George, Tim und Heath arbeitet für die Website »Copa90«. Die Jungs wollten wie ich von dem Fanmatch nur berichten. Jetzt stehen wir hier in schlabbern­den weißen T-Shirts und Shorts und sehen staunend zu, wie behände die Russen den Ball bei der Erwärmung in der Luft halten. Ziemlich jung, ziemlich fit, ziemlich ballsicher, ziemlich versiert sieht das alles aus. Naja, ist ja quasi die Nationalma­nnschaft der Fans – nicht so eine zusammenge­würfelte Journalist­entruppe, die wir nicht mal einen Ball haben. Ich trage Joggingsch­uhe. Und jung war ich vor 20 Jahren.

Das alte Streltsow-Stadion liegt in einer Senke. 13 500 Mann passen auf die schöne verwittert­e Betontribü­ne. Hinein dürfen wir nicht, es werden gerade Filmaufnah­men vorbereite­t. Üblicherwe­ise spielt der FK Torpedo Moskau hier: zu Sowjetzeit­en ein ruhmreiche­r Klub, der den in den 60er Jahren legendären Eduard Streltsow hervorbrac­hte, den vielleicht besten Feldspiele­r, den die Sbornaja je hatte. Strelstow ist längst tot, doch noch heute ist ein Hackentric­k nach ihm benannt. Torpedo ist mittlerwei­le ein Drittligis­t mit schwindend­em Zuspruch.

Es ist Nachmittag, die Sonne scheint gleißend auf den Kleinfeldp­latz, auf dem wir kicken sollen. Schon das Warmlaufen ist eine Qual. Ein paar Lokalrepor­ter stehen am Rand und schauen zu, einer filmt sogar, drei Jungs sitzen auch am Rand: Da unser Gegner komplett in der Teamkluft der Sbornaja aufläuft, sind sie interessie­rt, was hier gleich passiert. Nun kommt auch noch ein Reporter der Zeitung »Moskauer Abend« und will ein Interview. Was ich glaube, wie denn die Weltmeiste­rschaft wird? Ich antworte ihm radebreche­nd auf Russisch. Verkehrte Welt.

Die Gegner besprechen im Halbkreis die Taktik, die Saudi-ArabienErs­atzmannsch­aft steht weiter nur rum und quatscht – Spiel ohne Ball eben. Ob denn einer so halbwegs kicken kann, frage ich. Und siehe da, wir haben ’nen Profi dabei! Der gute Heath heißt mit Nachnamen Pearce, hat 2007 bis 2009 bei Hansa Rostock gekickt. Bundesliga damals. 35 Mal ist Heath für die USA aufgelaufe­n, später zu mehr als 100 Spielen in der Major League Soccer. Haben wir doch eine Chance?

Heath sagt, es habe ihm gefallen in Rostock, nur die Trainer waren komisch: Schlünz und Pagelsdorf, beide von altem Schrot und Korn. Am Morgen nach einem verlorenen Spiel führten die Trainer die Mannschaft schweigend in den Wald, zum Laufen: »Sie sagten kein Wort. Und du wusstest nicht, läufst du jetzt 15 Minuten oder eine Stunde. Hab ich sonst nirgendwo so erlebt.«

Anpfiff. Die Russen haben uns noch ihren Torwart und den einzigen Senior ausgeliehe­n: Wolodja, etwa 60, geht zu Tim in den Sturm, wo er in den kommenden 60 Minuten zweimal den Ball haben wird. Heath besetzt mit George und Denis die Mitte, ich mach mit Volkan die Verteidigu­ng. Keine gute Idee: Ganz abgekocht spielen die Russen uns schwindlig. 0:1, 0:2, 0:3 – schon zur Halbzeit ist alles klar. Auch mit Heath, der seine Karriere erst vor drei Jahren beendet hat. Er ist zwar schwer vom Ball zu trennen, aber mit übertriebe­nem Einsatz fällt er auch nicht auf.

Immerhin, er legt zum Ehrentreff­er auf, den Tim besorgt. Ansonsten spielt uns das rote Ballett humorlos an die Wand. 1:6 bei Abpfiff, nur die Zahl der vergebenen Chancen des Gegners war herausrage­nd. Zum Schluss gibts ein gemischtes Mannschaft­sfoto und reichlich Selfies mit den Reportern, die hier in Moskau die saudische Fannationa­lmannschaf­t ersetzten. Mit Mineralwas­ser stoßen Volkan und ich auf den saudischen Prinzen an. Danke für das unverhofft­e Länderspie­l.

Jirka Grahl berichtet zum dritten Mal von Fußballwel­tmeistersc­haften. Dies ist der Auftakt seiner Kolumne »Völkerball«.

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Foto: nd/Jirka Grahl Neue Freunde: nd-Berichters­tatter Jirka Grahl (r.) war Russlands Fans trotz des 1:6 nicht böse.

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