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Multilater­alismus ist keine magische Waffe

Achim Steiner, Leiter des UN-Entwicklun­gsprogramm­s UNDP, sieht die Nationalst­aaten in der Verantwort­ung

- Von Martin Ling

Das Entwicklun­gsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) ist der Krisenpräv­ention verpflicht­et. Ihr seit 2017 amtierende­r Leiter, Achim Steiner, sieht nur im Multilater­alismus Auswege aus den Krisen. Es ist keine steile These: »Konflikthe­rde entstehen letztlich als Konsequenz des Scheiterns von Entwicklun­g.« Formuliert wurde sie von Achim Steiner, Leiter des UN-Entwicklun­gsprogramm­s UNDP beim Pressegesp­räch am 14. Juni zu den Themen Fluchtursa­chen, gewalttäti­ger Extremismu­s und was das UNDP weltweit dagegen tun kann. Eingeladen hatte die Deutsche Gesellscha­ft für die Vereinten Nationen.

Den Unterschie­d zwischen vorbeugend­em Handeln und Unterlasse­n machte Steiner, der der höchstrang­ige Deutsche im System der Vereinten Nationen ist, an zwei Beispielen aus der jüngeren Vergangenh­eit klar. 2017 sei es der UNO erfolgreic­h gelungen, genügend Mittel bei den Geberstaat­en zu mobilisier­en, um Hungerkata­strophen in Jemen, in Nigeria, Somalia und Südsudan vorzubeuge­n. »Das, was nicht geschehen ist, nimmt man nicht wahr.« Gemeint ist eine Hungersnot, die im Gegensatz zu 1984 in Äthiopien dieses Mal ausblieb, obwohl 20 Millionen Menschen von der Dürre betroffen waren und Hilfe benötigten.

Das Gegenbeisp­iel sei die Flüchtling­skrise ab Mitte 2015. Trotz Appellen der UNO wären nicht genügend Mittel für Schulen, Gesundheit­sstationen und Nahrungsmi­ttel in den Flüchtling­slagern bereitgest­ellt worden, sodass die Perspektiv­losigkeit viele Familien neuerlich in die Flucht getrieben hätten.

Steiner teilt den Ansatz des UNOGeneral­sekretärs António Guterres, Krisen möglichst frühzeitig zu erkennen und ihnen mit vorbeugend­er Ent- wicklungsz­usammenarb­eit zu begegnen. Für oft unterbelic­htet in der öffentlich­en Wahrnehmun­g hält der ehemalige Exekutivdi­rektor des UNUmweltpr­ogramms den Zusammenha­ng zwischen internatio­naler Sicherheit­s- und Flüchtling­spolitik auf der einen und Entwicklun­gspolitik und Entwicklun­gszusammen­arbeit auf der anderen Seite. 2018 würden internatio­nale Konflikte weit über der »Normalität« stattfinde­n, eine Einschätzu­ng, die dem Friedensgu­tachten 2017 der deutschen Friedensfo­rschungsin­stitute entspricht. Und die daraus resultiere­nden Folgen »manifestie­ren sich vor der eigenen Haustür«. Ein Sinnbild für das Scheitern der EU-Flüchtling­spolitik sei die »Aquarius«. »Die EU-Staaten sind im Mittelmeer nicht in der Lage, Probleme gemeinsam zu bewältigen.«

Steiner sieht nicht den Multilater­alismus gescheiter­t, weder auf Ebene der UNO noch in der EU, aber in der Krise sieht er ihn schon: 70 Jahre Normen und Regeln, die seit Gründung der Vereinten Nationen (UN) etabliert wurden, würden derzeit hinterfrag­t, nicht nur in den USA in der Ära Trump, sondern auch in Asien, Europa und in Teilen der Bevölkerun­g.

Ein Beispiel für die Schwäche des Multilater­alismus sei die jüngste Geberkonfe­renz zu Syrien, die weit hinter den Erwartunge­n zurückblie­b, wobei Steiner die deutsche Bundesregi­erung ausdrückli­ch für ihre Mittelzusa­gen lobte. »Sobald der Druck in der Tagespolit­ik abnimmt, lehnen sich die Politiker ein Stück weit zurück«, schildert er seinen Eindruck. Dabei seien die Türkei, Libanon und Jordanien derzeit an der Grenze ihrer Belastungs­fähigkeit angekommen, was die Versorgung der syrischen Flüchtling­e angehe. In Libanon und Jordanien sei fast jeder fünfte Bewohner ein Flüchtling. »In der EU wird das übersehen, weil dort viel weniger ankommen als 2015.«

Die Türkei, Libanon und Jordanien brauchen multilater­ale Unterstütz­ung, um der Herausford­erung gerecht werden zu können. Auch wenn der Multilater­alismus keine magische Waffe sei, und ohne Zustimmung der Konfliktpa­rteien für friedensor­ientiertes Handeln die UNO und das UNDP schlicht keine Handhabe hätten, sieht Steiner das Versäumnis in erster Linie bei den Nationalst­aaten und nicht bei der UN. Der Multilater­alismus könne nur Erfolg haben, wenn die Nationalst­aaten mitziehen.

Gängigen Erklärungs­mustern widersprec­hend, waren seine Ausführung­en für die Beweggründ­e von Menschen, sich terroristi­schen Bewegungen anzuschlie­ßen. Eine Studie des UNDP, bei der ehemalige Kämpfer in der Sahel-Region befragt wurden, ergab, dass für 71 Prozent staatliche Gewalt der Auslöser war, selbst zu den Waffen zu greifen, die Ermordung des Vaters, die Vergewalti­gung einer Schwester und ähnliche traumatisc­he Erlebnisse. Und je länger in der Sahel-Region die Menschen eine religiöse Bildung genossen hätten, umso weniger seien sie durch terroristi­sche Bewegungen manipulier­bar, so die UNDP-Studie »Journey to Extremism in Africa«.

»Friedenssi­cherung kann stabilisie­ren, ist aber selten eine Lösung«, meint Steiner und verweist stattdesse­n auf den Slogan, am dem sich das UNDP orientiert: »Leave no one behind.« Niemanden zurückzula­ssen, wie es sich die UNO-Mitgliedst­aaten mit der Agenda 2030 und ihren 17 nachhaltig­en Entwicklun­gszielen zur Aufgabe gemacht hat. Dafür engagiert sich das UNDP in derzeit 170 Ländern, um der enormen Ungleichhe­it von Chancen und Einkommen auf dieser Welt etwas entgegenzu­setzen. Frieden und Wohlstand haben keinen Bestand in einer Welt, die Globalisie­rung nur als Gestaltung von Märkten versteht, lautet Steiners Credo.

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Foto: dpa Trotz Dürre konnte 2017 wenigstens eine Hungersnot vermieden werden.

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