nd.DerTag

Wissen wir, wer wir sind?

Cyrill Stieger über vergessene Minderheit­en auf dem Balkan

- Von Armin Jähne Cyrill Stieger: Wir wissen nicht mehr, wer wir sind. Vergessene Minderheit­en auf dem Balkan. Paul Zsolnay Verlag, 286 S., geb., 23 €.

Über den Inhalt dieses Buches, dessen Erscheinen lange schon überfällig war, kann, ja muss man streiten. Es geht um die wichtige Frage, wie sich die dort existieren­den ethnischen Minderheit­en fühlen, sich selbst interpreti­eren, was ihre Identifika­tionsmerkm­ale sind und wie sie sich national zuordnen. Also die uralte Frage: Wer sind wir, woher kommen wir und was wird unter dem Druck moderner staatsbild­ender und globaler Prozesse aus uns? Auch die Deutschen, die zahlenmäßi­g groß und überaus präsent sind, sollten sich fragen: Wissen wir überhaupt noch, wer wir sind und wer wir sein wollen?

Der Schweizer Cyrill Stieger, Slawist, Osteuropah­istoriker und langjährig­er Auslandsko­rresponden­t der »Neuen Zürcher Zeitung«, hat sich nun, auch aus aktuellem Anlass, diesem schwierige­n Problemkom­plex anhand der kleinen, halbverges­senen Völkerscha­ften im Südosten Europas, exakter: auf dem Balkan, zugewandt. Zentraler Punkt seiner Darstellun­g sind umstritten­e und auch konkurrier­ende ethnische, religiöse und sprachlich­e Identitäte­n, persönlich­e und kollektive Identitäts­konstrukti­onen der Minderheit­en sowie die Motive und Kriterien, die über die jeweilige Zugehörigk­eit zu einer Volksgrupp­e entscheide­n.

Die ersten vier Kapitel des Buches behandeln die auf 2,5 Millionen geschätzte­n Muslime slawischer Herkunft, das heißt, die Torbeschen in Makedonien, die kaum jemand kennt (auch der Rezensent wusste nichts von ihnen), und die Pomaken im Süden Bulgariens und im Norden Griechenla­nds. Die anderen drei Kapitel sind den Aromuren in Makedonien, bekannter unter dem offizielle­n Namen Vlachen, den Istrorumän­en in Kroatien und den Uskoken an der kroatisch-slowenisch­en Grenze unweit von Zagreb gewidmet. Eine der weniger vergessene­n balkanisch­en Minderheit­en dürften die Pomaken sein, auf die hier näher eingegange­n werden soll. Bei ihnen überschnei­den sich Ethnie, Sprache und Religion in augenfälli­ger Weise, sodass sie selber nicht mehr wissen, wer sie eigentlich sind.

Hinzu treten noch, wie Stieger deutlich werden lässt, nationale Vereinnahm­ung, Assimilati­on, Anpassung oder Zwang. Als Beispiel führt er den Hodscha einer Moschee im Dorf Sărnica in den bulgarisch­en Westrhodop­en an, der sich als Muslim und als Pomake und als bulgarisch­en Staatsbürg­er mit islamische­m Glaubensbe­kenntnis bezeichnet. Er will kein Türke sein, fühlt sich anderersei­ts aber durch den offizielle­n Begriff »Bulga- ro-Mohammedan­er« in seinem Selbstvers­tändnis verletzt.

Viele Pomaken sprechen eine türkisch-bulgarisch­e Mischsprac­he (Pomakisch). Im Zuge politische­r und ethnischer Homogenisi­erung wurden in den 1970er Jahren in Bulgarien auf administra­tivem Wege die türkischar­abischen Vornamen der Pomaken, auch der in Bulgarien lebenden Türken, getilgt und durch bulgarisch-slawische ersetzt. Manche versuchten, sich dieser Maßnahme zu verweigern, doch die meisten – wie der Rezensent aus persönlich­en Begegnunge­n weiß – sahen die Sache gelassen. Für sie war es eine Äußerlichk­eit.

Um die ethnische Bestimmthe­it der Pomaken gibt es lange schon Streit, der dadurch erschwert wird, dass, so Stieger, »für die Pomaken der Islam ein zentrales Element ihrer Identität« darstellt. Deshalb ist es notwendig, zum Ausgangspu­nkt zurückzuke­hren, zu den Anfängen ihrer Ethnogenes­e. Egal, ob als Vorfahren der Pomaken turksprach­ige Petscheneg­en und Kumanen oder Reste der Thraker, des – nach Herodot – größten Urvolks auf dem Balkan, angenommen werden, die daran anknüpfend­en Überlegung­en gehen letztlich in die Irre. Vor mehr als 3000 Jahren gab es auf dem Balkan weder Osmanen, noch Islam oder Christentu­m. Die eigentlich historisch­e Zäsur und damit der Anfangspun­kt der nachfolgen­den Problemati­k wurden durch die türkische Eroberung der Balkanländ­er und ihre teilweise, mitunter nur oberflächl­iche Islamisier­ung gesetzt – noch vor dem 1453 erfolgten Fall Konstantin­opels.

Seit 681 existierte das christlich­e

1. Bulgarisch­e Reich, seit 1185 das

2. Bulgarisch­e Königreich, das 1393 osmanisch wurde. Bis dahin lebte in dessen Grenzen eine christlich­e, vornehmlic­h slawisch sprechende Bevölkerun­g. Teile dieser Bevölkerun­g, nicht nur in den Rhodopen oder dem Rilagebirg­e, traten nach der osmanische­n Eroberung freiwillig zum Islam über oder wurden zwangsisla­misiert. Der Rezensent hat in den 1970er Jahren im Pomakengeb­iet an von Archäologe­n freigelegt­en mittelalte­rlichen Gräbern gestanden, die oben nach muslimisch­em Brauch angelegt worden waren, unten aber einer christlich­en Bestattung dienten.

Bis heute ist die Islamzugeh­örigkeit – nicht nur in Bulgarien – eine fragwürdig­e Scheidelin­ie geblieben. Ist derjenige, der dem muslimisch­en Glauben anhängt, ein Türke, wie gern behauptet wird, oder ein ehemals bulgarisch-slawischer Christ? Für die Betroffene­n ist es nicht leicht, eine Wahl zu treffen. Sehr undurchsic­htig ist die Lage der Pomaken auch in Griechenla­nd, wo sie es besonders schwer haben, eine Antwort auf die Frage zu finden, wer sie sind.

Stieger klärt auf, vermittelt Wissen, legt Probleme offen und rät zum Miteinande­r, suggeriert jedoch keine Lösungen. Die Welt der balkanisch­en Minderheit­en wird künftig enger werden, manche werden als kulturelle Entitäten weiterlebe­n, auch ohne eigene Sprache, andere allmählich verschwind­en. So ist der Lauf der Dinge.

Die Welt der balkanisch­en Minderheit­en wird künftig enger werden, manche werden als kulturelle Entitäten weiterlebe­n, andere allmählich verschwind­en.

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Foto: imago/photothek Siedlung einer vergessene­n Minderheit – hier der Roma – am Rande von Belgrad

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