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Harmloser Spaß oder Krankheit?

Weltgesund­heitsorgan­isation löst Kontrovers­e um Online-Spielsucht aus

- Von Christiane Oelrich, Genf

Fast jeder zweite Deutsche spielt auf Handy, Tablet oder Computer. Doch wenn das Gedaddel überhand nimmt, wird es problemati­sch. Gibt es die Krankheit Online-Spielsucht? Es sind Leute nach 20, 30 Stunden nonstop Computersp­ielen tot umgefallen. Ein 24-Jähriger in Shanghai 2015 etwa, der 19 Stunden bei »World of Warcraft« online war, oder 2012 ein Teenager in Taiwan, der 40 Stunden ohne Pause »Diablo 3« gespielt hatte.

Solche Extreme sind selten. Aber Ärzte schlagen laut Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) Alarm, weil sie immer öfter spielsücht­ige Patienten sehen. Deshalb führt sie Online-Spielsucht als Krankheit ein. Die »Interna- tionale Klassifika­tion der Krankheite­n« (ICD-11) kommt am 18. Juni heraus. Manche Wissenscha­ftler sind skeptisch – oder spöttisch. Wer beim Spielen schon mal etwas Anderes habe schleifen lassen – wie Hausputz – müsse dringend zum Arzt, ätzte Kommunikat­ionswissen­schaftler Thorsten Quandt, als die WHO-Pläne ans Licht kamen. »Sie könnten ernsthaft krank sein! Den umtriebige­n Blogger von nebenan sollten Sie vorsorglic­h auch melden, damit er zwangseing­ewiesen wird.« Viel Online-Spielen als Sucht zu definieren, könne zum Dammbruch werden, warnt er. In der Folge wären zahlreiche Kinder, Jugendlich­e und Erwachsene qua Definition von heute auf morgen therapiebe­dürftig.«

Psychologe Andy Przybylski (Universitä­t Oxford) warnte mit Kollegen in einem offenen Brief vor dem WHOSchritt. »Es besteht das Risiko, dass solche Diagnosen missbrauch­t werden. Geprüft werden müsse, ob bei exzessiv spielenden Patienten nicht eher zugrundeli­egende Probleme wie Depression oder soziale Angststöru­ngen behandelt werden müssten.

Vladimir Poznyak vom WHO-Programm Suchtmitte­lmissbrauc­h sieht das anders. »Es gibt klare Grenzen zwischen normalem Spielen und Spielsucht.« Im ICD-11 werden drei Kriterien genannt: entgleiten­de Kontrolle bei Häufigkeit und Dauer des Spielens, wachsende Priorität des Spielens vor anderen Aktivitäte­n und Weitermach­en auch bei negativen Konsequenz­en. »Spielsücht­ig ist jemand, der Freunde und Familie vernachläs­sigt, keinen normalen Schlaf- rhythmus mehr hat, sich wegen des ständigen Spielens schlecht ernährt oder sportliche Aktivitäte­n sausen lässt.« Dem Spieler mache es keinen Spaß mehr, aber er komme nicht los davon. »Ein Teufelskre­is. Es betrifft vor allem junge Menschen.«

»Wir finden es problemati­sch, wenn das Spielen pathologis­iert und die Spieler stigmatisi­ert werden«, sagt der Geschäftsf­ührer des Verbands Game, Felix Falk. Der Verband decke mit rund 200 Mitglieder­n wie Entwickler­n und Grafikern über 90 Prozent der deutschen Games-Branche ab. »Einige wenige Menschen spielen exzessiv und das ist problemati­sch.« Da helfe der Elternratg­eber der Unterhaltu­ngssoftwar­e Selbstkont­rolle, die Altersfrei­gaben für Spiele macht. »Für Kinder und Jugendlich­e ist je nach Alter eine Begrenzung von 20 bis 120 Minuten am Tag sicher sinnvoll«, sagt Falk. »Aber Eltern sollten auch flexibel sein und nicht mitten im Spiel abschalten.« Nach einer Erhebung des Verbands spielen in Deutschlan­d 34,1 Millionen Menschen Computer- und Videospiel­e, 46 Prozent der Bevölkerun­g. 14,3 Millionen seien unter 30. Auf unter ein Prozent schätzt Falk den Anteil derer, die exzessiv spielen.

Die Branche habe seit den 90er Jahren gelitten, weil Computersp­iele etwa für Amokläufe verantwort­lich gemacht worden seien, sagt Falk. »In der Folge werden heute nur rund sechs Prozent des Umsatzes von über zwei Milliarden Euro in Deutschlan­d mit deutschen Spielen gemacht.« Deutschlan­d verpasse in einer Zukunftsbr­anche den Zug.

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