Späte Genugtuung
Mein Traum von Spitzbergen
Es war im August 1976. Sie saß auf einer Bank im Besucherraum der Charité zwischen Kreißsaal und Wochenstation und wartete auf ihren Bruder. Er war zwei Tage zuvor glücklicher Vater eines Zwillingspärchens geworden. »Jetzt bist du auf einen Schlag gleich zweimal Tante geworden.« Am liebsten hätte sie es allen Besuchern laut mitgeteilt. Mein »kleiner« Bruder, ein Vater.
Ihre Gedanken finden sich wieder im Jahr 1949: Es war eine Hausgeburt, und sie bekam auf Vaters Antrag bei der Schulleitung eine Woche schulfrei zur Pflege der Mutter und ihres eben zur Welt gekommenen Bruders. Damals, vierzehnjährig, kam sie sich mit dieser Aufgabe schon sehr erwachsen vor. Seitdem träumte sie davon, selbst einmal Mutter zu werden.
Doch sie blieb Single, aus welchen Gründen auch immer. Es war nicht leicht, sich beruflich in einer Männerdomäne zu behaupten und gegenüber ziemlich konservativ denkenden Mitbürgern. Sie kämpfte um Gleichberechtigung, privat wie beruflich, bei der Suche um eine angemessene Wohnung oder um den Respekt, wie ihn eine verheiratete Frau genoss. Im Alter von über dreißig Jahren noch gebrauchte man ihr gegenüber stets die An- rede »Fräulein«. Das tat ihrem Selbstwertgefühl nicht gut.
Aber noch mehr büßte es neben solchen Frauen ein, denen die Mutterschaft vergönnt war. Leben in sich zu tragen und es zur Welt zu bringen – welch ein bewundernswertes Ereignis, welch ein biologischer Vorzug zwischen den Geschlechtern und welch eine verantwortungsvolle Aufgabe. So blieb ihr auch die Achtung versagt, die Müttern entgegengebracht wurde. Unzufrieden mit ihrer vermeintlichen weiblichen Unvollkommenheit gab sie selbstspöttisch denen recht, die ihr Alleinsein belächelten. Es war das überlieferte Moralverständnis einer zum Glück vergangenen Zeit, die bis in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hineinreichte.
So vergingen die Jahre. Sie sog, beladen mit Sehnsüchten und Träumen, all das vom Leben auf, was sich ihr an Angenehmem bot, nicht immer in respektvoller Würdigung dessen, was der Zeitgeist in zwischenmenschlichen Beziehungen als normal verstand.
»Nun ja«, schloss sie mit einem Seufzer ihre Gedanken ab: »Jetzt bist du 41 Jahre alt, hast dir eine gesunde Ausgeglichenheit erworben und bist dem Leben gegenüber abgeklärter. Das hat auch seine Vorteile.« Den Gedanken an eine, wenn auch sehr kleine Familie, hatte sie als nunmehr zu spät verworfen.
Mitten in ihre Grübelei hinein wurde ein Krankenhausbett dicht an ihr vorbeigefahren. Sie sah in ein erschöpftes, aber glückliches Frauengesicht und auf gefaltete Hände, die den Rücken eines Neugeborenen umfassten, das auf der Brust seiner Mutter lag. Das winzige Gesicht war ihr zugewandt. Unwillkürlich lächelte sie dem Wunder zu. Ein wenig Neid keimte in ihr auf und der bittere Gedanke, dass sie diesen Moment niemals selbst erleben werde.
Doch das Schicksal wollte es anders. Vier Monate später merkte sie, dass sie schwanger ist. Ihr erster Gedanke war: »Das muss ein Irrtum sein.« Und gleichzeitig überlegte sie, ob sie nach so vielen Jahren des unerfüllten Traums überhaupt noch ein Kind bekommen wollte. Ein Zweifel, der sie seelisch in ein Chaos stürzte. Die Fachärztin schien ihre Gedanken zu lesen, griff nach einem Überweisungsschein für den Schwangerschaftsabbruch. Widerspruchslos verfolgte ihr Blick den Stift, der über das Blatt fuhr. Ein Stück Papier, das doch eigentlich ein Todesurteil war. »Will ich das denn überhaupt?«, regte sich ihr Gewissen. Aber sie musste sich entscheiden, ohne jeden Kompromiss, zwischen Für und Wider.
Dagegen wandten sich ihr Status als Alleinstehende, wenn auch die materielle Seite kein Problem darstellte, und ihr Alter. »Aber begebe ich mich mit diesen Vorbehalten nicht mit jenen auf eine Stufe, die mir ohnehin das Recht auf eine Mutterschaft absprechen?«, haderte sie um das Für. Und was sie noch nicht bedacht hatte: Was wird, wenn sie einmal Hilfe braucht? Geschwister und andere Verwandte, auf die sie sich hätte berufen können, waren meilenweit entfernt, meldete sich das Wider.
Je länger sie solchen Gedanken nachhing, umso unschlüs- siger wurde sie. Ihr Blick haftete auf dem Zettel in ihrer Hand. »Absagen kann ich ja immer noch«, beruhigte sie sich, während ihr Wankelmut einem aufkeimenden Selbstmitleid Platz machte. Wem sollte sie sich anvertrauen, wer würde ihr einen ehrlich gemeinten Rat geben? Immerhin befand sie sich in einer Risikoschwangerschaft, spürte, wie ihr vertrautes Alleinsein einer Einsamkeit wich. Dann beschloss sie, ihren »kleinen« Bruder zu fragen.
»Behalt es! Erinnere dich an unseren Besuch damals in der Charité. Noch einmal wirst du solch eine Chance nicht bekommen!«, rief er ebenso bestimmt wie überrascht in den Hörer und unterstrich damit das »JA«, das sich unterschwellig in ihrem Innern immer wieder trotzig gemeldet hatte.
Einen Tag später ließ sie den Termin für die Abtreibung streichen. »Holen Sie sich einen Sonnenschein ins Haus.« Mit diesen Worten entließ die Arzthelferin eine stolze Frau in eine ihr nun sehr willkommene Schwangerschaft, die sie mit tiefer Genugtuung genoss.
Fast sieben Monate später war sie es, die man vom Kreißsaal in die Wochenstation fuhr, zufrieden lächelnd und mit ihrem Sohn auf der Brust.