Das Haus, in dem ich wohnte
Mein neuer Freund mit Fell
Da war er wieder, dieser Traum vom Haus; von diesem Haus – immer und immer wieder. Nach Jahrzehnten noch!
Es war kein besonders schönes Haus, vier Etagen hoch, die Fassade fast schmucklos, nur in den unteren Stockwerken mit einem Sims versehen. Ein Berliner Mietshaus aus der Gründerzeit, ohne Bad, aber mit Innentoilette, nachträglich eingebaut. Es stand in der Innenstadt zwischen Schönhauser Allee und Rosenthaler Tor in einer ebenso schmucklosen wie baumlosen Nebenstraße.
Von der Straße aus gesehen gehörten die drei rechten Fenster zu unserer Wohnung im dritten Stockwerk. An den Riegel eines dieser Fenster hängte Großmutter täglich ihren Spiegel, wenn sie sich den Dutt machte. Eines dieser Fenster gehörte zu dem kleinen Zimmer, das Vater mir schon seit langem als mei- nes herrichten wollte. Das sollte nun morgen geschehen, denn die Eltern hatten ihren freien Tag mittwochs; im Gastgewerbe gab es keinen freien Sonntag. Großmutter hatte bereits einen Karpfen auf dem Blumenbrett am Küchenfenster kaltgestellt, denn die Nachttemperaturen gingen Ende November gegen Null. Der morgige Tag also sollte ein besonderer werden.
Und wieder sehe ich mich vor diesem Haus stehen und hinauf zu den Fenstern schauen, die keine mehr sind. Nur noch schwarze Höhlen. Das Haus wird immer dunkler, bis es völlig schwarz ist – rußschwarz. Plötzlich sind nur noch die drei Fensterhöhlen zu sehen. Alles darüber, darunter und daneben ist unter einem grauen Schleier verschwunden. Großmutters Spiegel pendelt im Fensterkreuz, das gar nicht mehr vorhanden ist; nun flattert er umher, wird zur Spiegeltaube, will zum Nebenhaus. Aber dem fehlt seine dritte und vierte Etage. Die Spiegeltaube flattert zurück zu dem Fenster, hinter dem einst mein Zimmer sein sollte.
Ich stehe auf dem Hof und schaue hinauf zum Küchenfenster mit dem Blumenbrett. Auch das ist schwarz und ebenso der Karpfen: Ganz verkohlt liegt er dort. Vater schleppt Wasser – Eimer um Eimer. Es sind meine Buddeleimer, und er gießt alles in mein schönes Kinderzimmer. Aber ich kann das Zimmer nicht sehen. Dann trägt er meinen Puppenschrank hinunter auf den Hof, der voller Glas ist. Mutter kraucht auf der Erde umher und sucht ihren schwarzen Hut. Sie wird diesen verdammten Hut noch viele Wochen auf dem Fußboden suchen, zu nichts anderem mehr fähig.
Ich will weg vom Hof. Was soll ich noch in diesem ausgehöhlten schwarzen Haus. Aber das Haus hat keine Tür mehr.
War ich nicht froh, endlich auf den Hof zu können, raus aus dem Keller unter diesem lichterloh brennenden Haus? Weg von diesem Luftschutzmann, der uns nicht hinauslassen wollte, weil noch keine Entwarnung war. Erst als Vater ihm einen Fausthieb verpasst hatte, gelang es uns allen, aus dem brennenden Haus zu entkommen.
Alle? Wer waren alle? In jener Nacht vom 23. November 1943, als sich Bomber-Harris über Berlin austobte, gelang das nicht allen. Als ich nach einiger Zeit wieder zur Schule ging, fehlte Anneliese L. in unserer Klasse. Ihr Haus am Ende unserer Straße hatte einen Volltreffer abbekommen. Unser Haus traf »nur« der Benzintank des von der Flak im Friedrichshain abgeschossenen viermotorigen Lancaster-Bombers, ein Tragflügel rasierte die dritte und vierte Etage des Nebenhauses ab. Der Rumpf des Bombers erfasste das Haus der Veteranenstraße 21, setzte es in Brand und prallte dort ab. Die Deformierung der Bordschwelle an der Straßenkante ist heute noch erkennbar.
Aber wer sieht so etwas schon? Und wer fragt heute noch nach den Ursachen?