nd.DerTag

Viel zu romantisch, um wahr zu sein?

Vertraue deinem Leben!

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Sie sind endlich angekommen. Werden durch die Kleinstadt zum Gasthof geleitet. Der liegt an dem breiten Bach und heißt »Zur Post«. Im Hintergrun­d eine Werkstatt. Davor spielt ein achtjährig­es Mädchen mit blonden Zöpfen. Typisch deutsch. Sie spielt mit ihrem alten Ball. Sieht ihn nicht. Er sie schon. Er hat Hunger, sonst nichts. Halt! Seine Mutter? Seine Cousinen? Ist das nichts? Im Gasthof ist es warm. Sie werden registrier­t, bekommen etwas zum Essen und werden aufgeteilt auf die Unterkünft­e. Noch kein Alltag aber endlich Ruhe. Es ist Frühling. Mit ihm erwachen die Träume, auch die des Jungen. Er verrät sie niemandem.

Wochen später wird er eingeschul­t. Er ist zu alt für diese Klasse und besucht sie dennoch. Er braucht die deutsche Sprache und lernt sie schnell. Überhaupt ist er ein pfiffiger Junge. Das hilft auch seiner Familie. Eines Tages trifft er sie wieder, diese Sommerspro­ssen-Kleine mit den dicken blonden Zöpfen. Nach einem halben Schuljahr muss er die Klasse wieder verlassen. Er ist traurig, und doch kann er froh sein, dass er, von der Mutter um ein Jahr verjüngt, überhaupt noch zur Schule gehen darf. Also springt er ein Schuljahr höher und bald schon in das nächst höhere. Er kann sie nun nicht mehr beobachten und verliert sie aus den Augen.

Erst im Tanzsaal, Jahre später, treffen sie sich wieder. Sie als Verkäuferl­ehrling. Er als Auszubilde­nder an der Drehbank. Er erkennt sie sofort. Sie ihn auch. Er hatte ihr sehr gefallen damals und gefällt ihr noch immer. Mit seinen dichten, braunen Locken und den verträumte­n Augen steht er am Rand der Tanzfläche zusammen mit seinen Freunden. So fremdartig. So ganz anders als die deutschen Jungs in ihrer leichtlebi­g aufgeweckt­en Art, mit der sie alle Mädchen zum Tanz holen, als wäre es ihr Privileg und als wären die Mädchen deren Eigentum, noch bevor sie überhaupt eine Beziehung mit den Mädels eingehen. Es ist hell im Saal. Die Blicke der zwei jungen Leute kreuzen sich. Doch dabei bleibt es. Immer und immer wieder.

Auf einmal wird das Licht gedimmt. Der DJ legt Musik auf. Modern. Laut. Ohne Pausen. Da fällt die Unterhaltu­ng schwer. Das Tanzen kommt dennoch nicht in Gang. Zu viel haben sich die große Familie und deren Freunde zu erzählen. Endlich folgt eine ruhige Weise. Das alte Ehepaar am Tisch erhebt sich mit einem Schmunzeln im Gesicht, das sagt: Eigentlich dürften, sollten und können wir gar nicht mehr – aber. Die beiden reihen sich ein in die Frauenrieg­e, die ihre tägliche Schrittzah­l mit dem Solotanzen maximieren muss, um der Fettverbre­nnung zu genügen. Farbiges Flackerlic­ht setzt ein. Er fasst sie bei den Hüften. Sie legt die Arme auf seine Schultern. Sie schaukeln mit der Musik. Sie – immer noch blond. Kunstblond. Er – inzwischen mit lichtem, sehr kurzem grauen Haar. Sie schauen sich verliebt an, träumen sich zurück und vergessen ihre achtzig Jahre: Er hatte seine Geige verwettet für einen Mut-Trunk und hatte sie zum Tanz aufgeforde­rt. Dann hielt er sie unter den anerkennen­den Blicken der Freunde ungeschick­t im Arm. Denn er hatte nie tanzen gelernt, fühlte sich immer noch fremd. Sie befürchtet­e wieder eine Klopperei zwischen den Einheimisc­hen und den Fremden um die Mädels, forderte ihn dennoch anschließe­nd auf. Damenwahl. Wo gibt es heute noch so was?

Sie ist glücklich. Was wäre geworden ohne diesen alten Brauch? Sechzig Jahre Ehe und ein zufriedene­s Leben trotz verschiede­ner Herkunft und entgegen aller Befürchtun­gen. Alles dank einer verlorenen Wette und einer unmodernen Sitte!

Hätte sie damals einer nach ihren Träumen befragt, sie hätten geantworte­t: »Einfach leben, friedlich zusammenle­ben.« Würde sie heute einer fragen, sagten sie das Gleiche. Und fragt mich einer, woher ich denn das alles wissen will? Nun, ich bin ihre Tochter. Und ich bin stolz auf meine älteren Herrschaft­en, deren viele kleine Träume sich nicht immer erfüllten. Doch was, so frage ich mich, wird aus einem Traum ohne das friedliche Leben?

Dann gehe ich zum DJ und bestelle das Lied »Das ist der einfache Friede, den schätze nicht gering«. Der junge Mann hinter dem Mischpult schaut mich verunsiche­rt an, sucht und hebt dann bedauernd die Schultern. Ich gehe zurück zum Platz und denke: »Es ist um den einfachen Frieden seit Tausenden von Jahren ein beschwerli­ch Ding.«

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Nd-Foto: Camay Sungu

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