Der kleine Perlensucher
60 plus? Na ja: nicht mehr jung und nicht wirklich alt. In diesem Alter sieht man das Leben mit der nötigen Gelassenheit. Auch an diesem Tag.
Etwas großstadtmüde war sie von dem Bummel, von dem Gewusel in den Geschäften und der Hektik in den Berliner Verkehrsmitteln. Also entschloss sie sich, einen Zwischenstopp am Alex auf einer Bank am Neptunbrunnen einzulegen. Herrlich, die Sonne, die Rosenhecken, die St. Marienkirche, der alles überragende Fernsehturm, der imposant plätschernde Neptun mit seinen Gespielinnen. Im Rücken das Rote Rathaus. Ein schöner Bau, aber beim Betrachten bekam die Frau immer so ein Grummeln in der Magengegend. Sie wusste, nicht alle, die dort ein- und ausgehen, sind mit Herz und Verstand bei den Menschen.
Sie schob diesen Gedanken schnell zur Seite und beschloss, die Ruhe im Park zu genießen und zu entspannen. Da bemerkte sie zwischen den Bänken und den Rosenhecken einen kleinen Jungen. Gehörte er zu jemandem? Nein, er war allein! Der Blondschopf war etwas zerzaust. Die Kleidung aus keinem Markengeschäft, eher abgetragen. Die Hose zu kurz, die Jacke zu groß, und die Schuhe hatten auch schon bessere Zeiten gesehen. Die Augen strahlend blau, mit einer Tiefe und doch bei sich, hellwach und suchend nach unten gerichtet.
Er machte die Frau neugierig. Sie lächelte ihn an. Er lächelte zurück. Etwas traurig und doch verschmitzt. In seinen kleinen Händen hielt er fest umklammert eine etwas schäbige Blechschachtel. Dieses Ding versetzte die Frau in ihre eigene Kindheit zurück. Sie besaß auch so eine geheimnisvolle Schachtel. Es war ihre Schatztruhe. Der Inhalt: einige besonders schöne Murmeln, einige besonders schöne Abziehbilder für das Poesiealbum und ein ausgeschnittenes Bild von dem Schauspieler Sergej Bondartschuk, dem Haupt- darsteller aus dem russischen Film »Ein Menschenschicksal«.
Sie sprach den kleinen Kerl an. Er setzte sich zu ihr auf die Bank und schaukelte mit seinen kleinen Beinen. Sie reichte ihm eine Packung Kekse. »Was ist das für eine Schachtel, und was machst du hier?«, fragte sie ihn. Sofort kam die Antwort: »Ich suche Perlen und lege sie dann in meine Schachtel.«
Das kam ihr seltsam vor. »Aber hier gibt es doch keine Perlen. Diese kommen im Mantel von Muscheln in warmen Meeren vor und werden von Tauchern oder mit Netzen gefischt. Es gibt auch Bernsteine, ein fossiles Harz von ausgestorbenen Nadelbäumen, durchsichtig und honiggelb. Diese werden am Strand der Ostsee gefunden.« So erklärte es die Frau dem Jungen. Doch er blieb dabei: »Willst du sie mal sehen? Schau in mein Kästchen!« Er gab ihr die Schachtel aus seinen mit Krümeln verschmierten kleinen Händen. Die Frau öffnete vorsichtig und gespannt den Deckel und schaute hinein. Sie sah kleine Spiegelscherben, die im Mosaik ihr Gesicht zeigten. Sie blickte ihn fragend an. »Hast du nun meine Perlen gesehen? Es sind die Leute, die in meine Schachtel schauen dürfen!«
Der Junge rutschte von der Bank und verschwand. Die frechen Spatzen machten sich lautstark über die von seinem Schoß heruntergefallenen Krümel her.
Sie dachte nach: Wer solche Träume hat wie dieser kleine Junge, macht uns das Leben wunderbar erlebbar. So kostbare Augenblicke hinterlassen keine Leere, wenn sie gegangen sind. Sie machen uns reich und glücklich. Danke – kleiner Perlensucher von Berlin!