Namenstag
Sie war ein Sandwichkind. Vor ihr geboren die beiden Jungen, schon aus dem Haus, und nach ihr die Zwillinge Lisa und Laura, nun zwölfjährig. Aber ihr hatten die Eltern den schönsten aller Namen gegeben: Magdalena. Da schwang eine Melodie durch die Silben. Zu Hause in ihrem Dorf jedoch war und blieb sie das Lenchen. Selbst als sie an das weiter entfernte Gymnasium wechselte, ging der Name mit, weil auch die Freundinnen mitgingen.
Ihr Heimatort – eingebettet in die weiche Silhouette des Erzgebirgskammes – erlitt Verluste, wie andere Orte auch. Kein Laden mehr, die Schule geschlossen, Post und Sparkasse unrentabel. Als Back- und Flowershop überlebten nur ein Bäcker und der Blumenladen. Und die Freundlichkeit der Alten. Auch im neuen Jahrhundert grüßten sich die Leute noch und verweilten schwatzend an den Gartenzäunen.
»Das Lenchen geht ins Polnische.« Die Nachricht! Wieder eine weg. Aber ins Polnische. Magdalena war begabt, musikalisch. Die Ausnahme in der Familie. An der Musikschule hatte sie das Oboespielen ge- lernt. Ausgerechnet Oboe. Für die Älteren verband sich damit das Quäken der Ente in Prokofjews »Peter und der Wolf«. Schulstoff. Solch ein Instrument! Warum wählte sie nicht Gitarre? Da könnte man wenigstens dazu singen. Und nun wollte Magdalena Musik studieren, wollte Musikerin in einer Philharmonie werden.
Das sollte in Polen sein, in der Stadt, in die sie sich verliebt hatte. Die Stadt mit den wundervollen Bürger- und Kaufmannshäusern im Zentrum, dem mittäglichen Spektakel am Markt, wenn auf dem Turm des Renaissance-Rathauses die Ziegenböcke sich zwölfmal auf die Hörner nahmen. Die Stadt mit dem herrlichen Maltasee, dem einstigen Jesuitenkloster und den 120 000 Studenten. Darunter Karol. Bei einem Schüleraustausch hatten sie sich kennengelernt. Es hatte sie wie aus heiterem Himmel getroffen. Beide. Wenn er ihren Namen auf ihre Haut flüsterte, hatte ihr Herz getanzt. Karol ließ sie Magdalena sein, ganz Frau. Und mädchenhaft.
Die Leute im Dorf hatten sich bald an ihr Fortsein gewöhnt. »Wie geht’s Lenchen? Kommt sie zurecht?« Und ob sie zurechtkam. Sie ließ es die Mutter wissen in Telefonaten, in E-Mails, aber sie mied den Besuch zu Hause. Vorerst. Sie wollte Magdalena sein. Nie wieder Lenchen werden. Es war für sie nicht nur ein Namensspiel. Sie hatte endlich zu sich gefunden. Und ein Hut hatte ihr dabei geholfen. Zufällig entdeckt beim Bummeln, zufällig probiert. Aus Spaß. Aus Übermut. Einer Woge gleich, breitkrempig, aus dünnem strohähnlichen Geflecht. Sie hatte das lange blonde Haar mit geschicktem Griff nach oben gedreht, den Rand tief ins Gesicht gezogen. So, dass die Augen ge- rade noch zu sehen waren. Da ließ es sich flirten und kokettieren. Trug Magdalena das Haar offen, schob sie den Hut weit in den Nacken. Fast verwegen.
Sie schmückte ihn mit breiten farbigen Bändern, den Hosen und Blusen angepasst. Manchmal griff sie auch zu einer Blüte. Dann, wenn sie ihren weitschwingenden Rock trug. Der Hut verlieh ihr Sicherheit und machte sie für Karol noch begehrenswerter. Ihre Kommilitonen hätten etwas vermisst, wäre sie einmal ohne ihr Prachtstück gekommen. Manche taten es ihr gleich. Aber nie so perfekt. Im Winter tauschte sie das zarte Gebilde gegen einen knallroten Filzhut mit breit ausladender Krempe. Und an bitterkalten Tagen schlang sie ein Wolltuch um Kopf und Hals. Aber niemals griff sie zur Mütze, dem Indiz ihrer Lenchen-Zeit.
Den ersten Besuch zu Hause hatte sie lange hinausgezögert. Drei Dinge mussten gegeben sein: Sie wollte einigermaßen gut Polnisch sprechen, ihr Instrument beherrschen. Und Magdalena sein. Im Frühjahr schien ihr die Zeit gekommen. Ein ungewöhnlich warmer Tag. Das viele Umsteigen auf deutschem Boden konnte ihr die Vorfreude nicht nehmen. Die Zwillinge waren zur Bushaltestelle gekommen. Mit dem Wägelchen, mit dem schon die Großmutter die Wäsche zur Mangel gezogen hatte. Die Mädels kreischten. Lenchen mit Hut! Magdalena knuffte die beiden, gab ihnen einen Kuss, setzte die Reisetasche in das Gefährt. Mit dem großen Rollenkoffer im Schlepp schritt sie selbstbewusst den Zwillingen voran. Immer talwärts. Doch das Herz klopfte, als müsste sie einen Anstieg meistern. Wie wird Mutter reagieren? Nur das war jetzt wichtig. Die wenigen Leute, die ihnen entgegenkamen, staunten, drehten sich um, fragten. »Das Lenchen?« Einer pfiff anerkennend.
Als Magdalena die Küche betrat, war die Mutter dabei, ein großes Blech mit Streuselkuchen aus dem Herd zu ziehen. Sie wischte sich die Hände an der Latzhose ab – Schürzen trug sie nie – fasste sich und ging einen Schritt auf die Tochter zu. »Wie schön du bist, Magdalena. Willkommen zu Hause!« Da warf die junge Frau den Hut quer durch den Korridor, wirbelte die Schwestern herum und sagte dann leise: »Danke Mutter.«