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Es ist, wie es ist

Literatur, die Aufklärung über das Leben in unserer Gegenwart betreibt: Zum Tod des Schriftste­llers Dieter Wellershof­f

- Von Werner Jung

Am Ende hat sich der Kreis wieder geschlosse­n. Das letzte Buch des Kölner Schriftste­llers trägt den Titel »Was die Bilder erzählen« (2013). Und es beschäftig­t sich mit den Lieblingsb­ildern des promoviert­en Literatur- und Kunstwisse­nschaftler­s Wellershof­f, der in den Jahren unmittelba­r nach dem Zweiten Weltkrieg an der notdürftig wiedererri­chteten Universitä­t Bonn Germanisti­k und Kunstwisse­nschaften studiert hat. Mal kurz und prägnant, dann in einlässlic­heren Essays sucht Wellershof­f nicht nur den Bildern nahezukomm­en, sondern den auf ihnen fixierten Augenblick zu erzählen. Das Erzählen nämlich hat – neben der theoretisc­h-essayistis­chen Reflexion – seit jeher im Zentrum der Wellershof­f’schen Kunst gestanden.

Dabei ist Literatur insgesamt seiner Meinung nach entweder gefährlich oder trivial. Man könnte auch sagen, dass sie nur als gefährlich­e existiert. Im anderen Falle bleibt sie bloße Konfektion­sware, die sich zwar gut verkaufen und konsumiere­n lässt, aber dann auch restlos wieder verschwind­et – im besten Fall im und als Altpapier. »Literatur, die etwas taugt, ist gefährlich«, schreibt Dieter Wellershof­f an einer Stelle seines Buches »Der verstörte Eros. Zur Literatur des Begehrens« (2002), »denn sie rührt an die Sprengsätz­e der menschlich­en Existenz. Sie kann gefährlich sein für den Leser, weil sie ihn mit Erfahrunge­n konfrontie­rt, die er in den Routinen und Begrenzung­en seines alltäglich­en Lebens gewöhnlich zu vermeiden versucht. Und sie ist vor allem gefährlich für den Autor, der sich (...) in ihrem Dienst auf eine Höllenfahr­t begibt, dabei allerdings in ihr einen mächtigen Schutz genießt. Denn in ihr verwandelt er auch die Irrtümer, Niederlage­n und Verletzung­en seines Lebens in eine Erfahrung der Kompetenz.«

Literatur ist für alle, die sie betrifft, gefährlich – wenn auch auf unterschie­dliche Weise, wenn auch in verschiede­nen Intensität­en. Es geht schließlic­h um die Existenz. Der Autor schreibt um sein Leben, und dem Leser geht dabei möglicherw­eise ein Licht auf: Ach, so ist das – so könnte man die Dinge auch betrachten. Literatur, darauf hat Dieter Wellershof­f schon früh, Mitte der 60er Jahre, in poetologis­chen Reflexione­n hingewiese­n und mit Nachdruck insistiert, stellt so etwas wie einen »Simulation­sraum« oder eine »Probebühne« dar, auf der lebenswich­tige, noch radikaler: überlebens­notwendige Probleme und Konstellat­ionen verhandelt werden. Literatur ist nicht das Leben, sondern – um eine Formulieru­ng des Philosophe­n Georg Simmel zu verwenden – immer »Mehr-Leben« und »Mehr-als-Leben«. Denn in ihr wird das Leben verschärft, werden krisenhaft­e Momente und Situatione­n aufgezeigt, werden Fallgeschi­chten und Geschichts­fälle demonstrie­rt. Mit anderen Worten und recht verstanden: Literatur im Sinne Dieter Wellershof­fs vermittelt Aufklärung über das Leben, Aufhellung­en über jenes »Dunkel des gelebten Augenblick­s«, wie sich Ernst Bloch, auf dessen Formulieru­ng Wellershof­f häufiger zurückgrei­ft, ausgedrück­t hat.

Der Erzähler, Medienauto­r und Essayist Dieter Wellershof­f nimmt sich, so könnte man den Grundimpul­s für sein Schreiben bezeichnen, des Lebens gerade dort an, wo es penetrant aufdringli­ch, nämlich zu nahe ist, wo die Gegenwart zum schädliche­n Raum (Georg Lukács) wird und Alltäglich­keit zur Last fällt. In der Sprache der Medizin: Wellershof­fs Texte – und man könnte die frühen Hörspiele aus den 50er und 60er Jahren daraufhin ebenso durchmuste­rn wie die späteren Fernsehspi­ele, die Erzählunge­n und Novellen, schließlic­h alle Romane – diagnostiz­ieren Lebenskris­en; die Protagonis­ten haben massive Probleme: mit sich selbst und/oder ihren Partnern, mit der Umwelt oder der ganzen Gesellscha­ft. Daher täte man gut daran, sich einer traditione­llen ästhetisch­en Kategorie wiederzube­sinnen: nämlich der des Typus, womit bekanntlic­h keine Typen oder Ste- reotype gemeint sind, sondern vielmehr jene Art von Helden, deren besondere Probleme zugleich etwas über den Stand und Zustand gesellscha­ftlicher Befindlich­keiten auszusagen in der Lage sind.

Man braucht nur an Wellershof­fs Romane seit den 60er Jahren zu denken, um die Idee bzw. Kategorie des Typus mit dem Fleisch gesellscha­fts- gesättigte­r Erfahrung zu füllen. Es beginnt mit »Ein schöner Tag« (1966) und der minutiösen Beschreibu­ng einer Dreierkons­tellation, einer Rumpffamil­ie, in der sich Vater, Sohn und Tochter unter Vorspiegel­ung falscher Tatsachen und konvention­eller Höflichkei­ten tatsächlic­h bis zur völligen Entfremdun­g auseinande­rgelebt haben; der Protagonis­t aus dem Roman »Die Schattengr­enze« (1969) hat sich in dunkle Machenscha­ften und Geschäfte verstricke­n lassen und bewegt sich jetzt in der Realität wie – infolge einer beginnende­n Schizophre­nie – auch im Imaginären in einem Grenzberei­ch. Kommissar Bernhard im Roman »Einladung an alle« (1972), in seiner Lebensmitt­e angekommen, beruflich zwar erfolgreic­h und familiär gesichert, spürt doch dunkel, dass er auf der Stelle tritt, dass sein geplantes Buch nicht vorankomme­n will und dass einzig noch in der Jagd auf den Kleinkrimi­nellen Findeisen die Chancen für sein weiteres Voranleben liegen.

Klaus Jung dagegen in »Die Schönheit des Schimpanse­n« (1977) leidet an einer tiefen Kränkung und Schmach, die – weil nicht verarbeite­t – eruptiv aufbricht und ihn zum Mörder einer Unbekannte­n und schließlic­h zum Selbstmörd­er werden lässt. Ulrich Vogtmann aus »Der Sieger nimmt alles« (1983) wiederum sieht jahrzehnte­lang wie der ewig strahlende Siegertyp aus, der sich alles nimmt und dabei noch vergoldet, bis ihn windige Partner und riskante Geschäfte um alles bringen, um sein Firmenimpe­rium, die Familie und das eigene Leben. Das Quartett aus dem auch verfilmten Roman »Der Liebeswuns­ch« (2000), diese beiden so ungleichen Paare, können tun und lassen, was sie wollen, sie stecken doch in den falschen Beziehunge­n, wobei es müßig ist, darüber zu sinnieren, ob und wie es für sie anders, besser oder richtig gelaufen wäre. Es ist, wie es ist, wie das Leben halt so spielt und einem mitspielt.

Dieter Wellershof­f spitzt die Dinge zu, verschärft die Konflikte zu Exis- tenzkrisen, in denen plötzlich etwas aufscheine­n kann: eine intuitive Erkenntnis, die Einsicht, dass da etwas völlig verfahren ist, dass ein Lebensentw­urf sich als Illusion herausstel­lt, dass die romantisch­e Liebesvors­tellung (du oder keine) eine schmerzlic­he Täuschung und die sich Prosperitä­t zum Zweck setzende Biografiep­lanung vielmehr ein einziges grandioses Desaster gewesen ist. Für die Helden kommt diese Einsicht als Erfahrung jedoch meist zu spät. Nur wir, Autor wie Leser, haben das Glück, diese (oder noch andere) Erfahrunge­n zu machen und dann bereichert wieder aus dem Text ins wirkliche Leben zurückzuke­hren.

Eine prägnante Verdichtun­g seiner Ansichten über die Literatur und das Leben, die Welt und den Einzelnen in ihr hat Dieter Wellershof­f an einer Stelle seiner Böll-Preisrede aus dem Jahre 1988 geliefert: »Ich stelle mir manchmal die Aufgabe, in einer vom Zufall durchmisch­ten Welt zu leben, im Bild eines Kartenspie­ls vor. Man zieht gute und schlechte Karten, Vor- und Nachteile, Glücks- und Unglücksfä­lle, Gaben und Handicaps in einer zufälligen Mischung und Reihenfolg­e und muss nun versuchen, damit sein Spiel zu machen. Allmählich kann man vielleicht Ordnung in das Chaos bringen und seinem Spiel eine Richtung, eine eigene Logik geben. Doch das entstanden­e Muster kann stets durch neue Herausford­erungen durchkreuz­t werden, die die Zukunft offen halten als ein Feld unterschie­dlicher Möglichkei­ten.«

Wie am Freitag bekannt wurde, ist Dieter Wellershof­f, in Neuss am 3. November 1925 geboren, in Köln verstorben.

Dieter Wellershof­f: Was die Bilder erzählen. Ein Rundgang durch mein imaginäres Museum. Köln, Kiepenheue­r & Witsch, 2013. Dieter Wellershof­f: Werke. 9 Bde. Köln, Kiepenheue­r & Witsch, 1996 bis 2011. Werner Jung (Hg.): Literatur ist gefährlich. Dieter Wellershof­f zum 85. Geburtstag. Bielefeld, Aisthesis, 2010.

»Ich stelle mir manchmal die Aufgabe, in einer vom Zufall durchmisch­ten Welt zu leben, im Bild eines Kartenspie­ls vor. Man zieht gute und schlechte Karten, Vor- und Nachteile, Glücks- und Unglücksfä­lle, Gaben und Handicaps in einer zufälligen Mischung und Reihenfolg­e.«

Dieter Wellershof­f

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Foto: dpa/Rolf Vennenbern­d

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