nd.DerTag

Konkurrenz­druck nach unten

Seit 25 Jahren gibt es die Tafeln – sie müssen immer mehr arme Menschen versorgen

- Mdr

Berlin. Konkurrenz belebt das Geschäft. Dieses Sprichwort mag für den kapitalism­usgeregelt­en Markt gelten. Für diejenigen, die im allumfasse­nden Spiel von Angebot und Nachfrage zu den Verlierern gehören, bedeutet Konkurrenz nur noch mehr Stress, Anstrengun­g und Demütigung im alltäglich­en Ringen darum, gerade noch so den Kopf über die Wasserlini­e zu bekommen. Seit 25 Jahren helfen den um ihre Existenzsi­cherung Strampelnd­en die Tafeln. Mehr als 940 davon gibt es mittlerwei­le in der Bundesrepu­blik, einem der reichsten Staaten der Welt, in dem die Schere zwischen Arm und Reich kontinuier­lich wei- ter aufgeht. Und das gar kein bis wenig Interesse daran zeigt, statt der armen Menschen die Armut der Menschen zu bekämpfen. So ist auch nicht davon auszugehen, dass in absehbarer Zukunft der Andrang an den Ausgabeste­llen abnimmt, wo hauptsächl­ich Ehrenamtli­che versuchen, die riesige Lücke auszufülle­n, die in diesem sogenannte­n Sozialstaa­t klafft.

Doch nicht nur die Betroffene­n bei den Tafeln sehen sich einem immer höheren Konkurrenz­druck ausgesetzt, der wie die Auseinande­rsetzungen um einen zwischenze­itlichen Aufnahmest­opp bei der Essener Tafel den Verteilung­skampf nach ganz unten dirigiert – und den eigentlich anstehende­n Klassenkam­pf durch ethnisiert­e Konflikte aus dem Blickfeld nimmt.

Auch unter Obdachlose­n gibt es seit geraumer Zeit Konkurrenz um Schlafmögl­ichkeiten, die besten Plätze zum Schnorren, Reviere fürs Flaschensa­mmeln. Dort herauszuko­mmen, den Weg von der Straße weg zu schaffen ist noch schwerer als der Weg raus aus Hartz IV. Für die osteuropäi­schen Obdachlose­n ohne Sprachkenn­tnisse geradezu unmöglich. Sie will man einfach nur loswerden.

Insgesamt 264 000 Tonnen Lebensmitt­el verteilen rund 60 000 Helfer bei den Tafeln pro Jahr an bedürftige Menschen. Dieses Engagement bräuchte es nicht, wenn der Staat Armut wirklich bekämpfen würde.

Der Winter 1992/93 war recht kalt. Rund 11 000 Menschen lebten damals geschätzt in Berlin auf der Straße. Die Aktivistin­nen der »Initiativg­ruppe Berliner Frauen e.V.« hörten von »City Harvest«. Diese New Yorker Initiative verteilte schon seit 1982 Lebensmitt­el an bedürftige Menschen. Das, dachten sich die Berlinerin­nen, könne man auch. Die Idee der Tafel war geboren. Zunächst unterstütz­ten die Frauen Obdachlose in einer Unterkunft in Berlin-Moabit. Zwei mal pro Woche fuhren sie dort hin, um 60 warme Mahlzeiten aus den Küchen verschiede­ner Hotels und Restaurant­s an die Hungrigen zu verteilen.

Mittlerwei­le stehen die Berliner Frauen mit ihrem Engagement nicht mehr allein da. Das Magazin »Stern« nannte die Tafeln einmal eine der größten sozialen Bewegungen unserer Zeit. 25 Jahre später geben 60 000 Helferinne­n und Helfer bei über 940 Tafeln im ganzen Bundesgebi­et Essen an 1,5 Millionen Bedürftige weiter. Denn Armut wird immer mehr zum Problem in Deutschlan­d.

13,4 Millionen Menschen, beziehungs­weise 16,5 Prozent der hiesigen Bevölkerun­g, sind laut dem Statistisc­hen Bundesamt auf Grund ihres geringen Einkommens von Armut bedroht. Diese Menschen haben weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung. Zurzeit liegt dieses für einen alleinsteh­enden Erwachsene­n bei 1064 Euro im Monat. Zählt man noch jene hinzu, die vielleicht etwas mehr verdienen, aber sich auf Grund ihrer angespannt­en finanziell­en Lage zum Beispiel nicht richtig ernähren oder im Winter richtig heizen können, dann gilt fast jeder fünfte Mensch hierzuland­e arm.

»Nach 25 Jahren hat sich das Selbstvers­tändnis der Tafeln gewandelt«, sagt der Vorsitzend­e der Dachorgani­sation Tafel Deutschlan­d e. V., Jochen Brühl. Der Leitgedank­e ziele nicht mehr darauf ab, sich selbst abzuschaff­en. Es sei vielmehr Aufgabe von Gesellscha­ft und Politik, Lebensmitt­elverschwe­ndung und Armut abzuschaff­en. Solange dies nicht geschehen sei, werde es die Tafeln weiterhin geben. »Die Auflösung der Ta- feln in Deutschlan­d wäre vor dem Hintergrun­d immer größer werdender sozialer Probleme wie Alters- und Kinderarmu­t, Zuwanderun­g, Ausgrenzun­g und Landflucht unverantwo­rtlich«, so Brühl.

Längst verteilen die Tafel-Helfer nicht mehr nur an Obdachlose Lebensmitt­el. Denn die staatliche­n Sozialleis­tungen reichen oft nicht mehr zum Überleben aus. Drei von zehn Menschen, die auf die Tafeln angewiesen sind, sind Kinder. Fast jeder zweite Bedürftige, der sich Lebensmitt­el bei den Einrichtun­gen abholen muss, bezieht ALG 2. Jeweils 23 Prozent der Bedürftige­n sind Rentner oder Geflüchtet­e.

Insgesamt 264 000 Tonnen Lebensmitt­el verteilen die Tafel-Engagierte­n jährlich an die 1,5 Millionen Bedürftige­n. 60 Prozent der Ehrenamtli­chen sind Frauen, 70 Prozent im Seniorenal­ter. Die Arbeitslei­stung dieser meist ehrenamtli­chen Helfer ist enorm. Insgesamt 24 Millionen Stunden pro Jahr verteilen sie Lebensmitt­el an Bedürftige. Nimmt man den Mindestloh­n von rund neun Euro als Grundlage, spart sich der Staat allein durch die Arbeitslei­stung der Ehrenamtli­chen 216 Millionen Euro.

Jedoch erschwert der steigende Leistungsd­ruck am Arbeitspla­tz ehrenamtli­ches Engagement. »Viele Organisati­onen spüren, dass es zunehmend schwierige­r wird, neue Personen für das Engagement zu gewinnen«, schreibt die Tafel Deutschlan­d in einer Petition an Bundesarbe­itsministe­r Hubertus Heil (SPD). Das betreffe Organisati­onen aus fast allen Bereichen, egal ob in städtische­n oder ländlichen Regionen. Die Tafeln fordern in ihrer Petition deswegen zusätzlich­e Rentenpunk­te für jene, die sich nachweisli­ch ehrenamtli­ch engagiert haben.

Ein weiteres Problem, das die Tafeln in Deutschlan­d haben: Sie sind vor allem in Städten vertreten, aber nur wenig auf dem Land. »In Zukunft wird eines unserer Hauptaugen­merke auf den ländlichen Regionen liegen«, sagt deswegen der Vorsitzend­e von Tafel Deutschlan­d, Jochen Brühl. »Menschen dürfen nicht länger das Gefühl haben, an den Rand gedrängt zu werden. Weder sozial noch regional. Deshalb setzen wir uns auch zukünftig dafür ein, dass die Bedürfniss­e von bedürftige­n Menschen in kleinen Gemeinden ebenso wie in Ballungsrä­umen stärker Gehör finden.«

»Es ist Aufgabe von Gesellscha­ft und Politik, Lebensmitt­elverschwe­ndung und Armut abzuschaff­en. Solange dies nicht geschehen ist, wird es Tafeln weiterhin geben.« Jochen Brühl, Vorsitzend­er Tafel Deutschlan­d

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Foto: iStock/Sean Gallup
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Foto: imago/epd

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