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Richtlinie­nkompetenz, Minister-Verantwort­ung und Koalitions­ausschüsse

Die Kanzlerin hat das Sagen – zumindest theoretisc­h, denn es gibt noch andere Mechanisme­n

- Von Sebastian Bronst

Das Grundgeset­z sichert der Bundeskanz­lerin innerhalb der Regierung eine starke Stellung zu. Sie ernennt ihre Minister und bestimmt laut Grundgeset­z »die Richtlinie­n der Politik«. Dieses Vorrecht geht einher mit einer besonderen Legitimati­on und Verantwort­ung: Nur die Kanzlerin wird vom Parlament gewählt und ist ihm rechenscha­ftspflicht­ig.

Die Geschäftso­rdnung der Bundesregi­erung greift diesen Tenor auf und wird noch deutlicher. Die Kanzlerric­htlinien sind »für die Bundesmini­ster verbindlic­h und von ihnen in ihrem Geschäftsb­ereich selbständi­g und unter eigener Verantwort­ung zu verwirklic­hen«, wie es dort heißt. Einen eigenen Ermessenss­pielraum haben sie dabei nicht. »In Zweifelsfä­llen« entscheide­t allein die Bundeskanz­lerin.

Darüber hinaus dürfen öffentlich­e Äußerungen von Ministern den Richtlinie­n nicht widersprec­hen. Sollten die Minister nicht einverstan­den sein, müssen sie der Kanzlerin laut Geschäftso­rdnung »unter Angabe der Gründe« Mitteilung machen und ihre Entscheidu­ng »erbitten«.

Ministerie­lle Eigenveran­twortung Allerdings konstruier­ten die Verfasser des Grundgeset­zes das Prinzip der Richtlinie­nkompetenz in einem gewissen Spannungsv­erhältnis zur Eigenveran­twortung der Minister. Diese führen ihren Bereich eben »selbständi­g und unter eigener Verantwort­ung«, heißt es in Verfassung und Geschäftso­rdnung. Dort ist auch festgehalt­en, dass die Regierung »über Meinungsve­rschiedenh­eiten zwischen den Bundesmini­stern entscheide­t« und alle Beschlüsse gemeinsam fasst.

Auch wenn an der Richtlinie­nkompetenz der Kanzlerin auf dem Papier kein Weg vorbeiführ­t, ist die Sache aus diesen und anderen Gründen also in der politische­n Praxis weniger eindeutig. So wird in der CSU auch im aktuellen Konflikt um die Frage der Zurückweis­ung von Flüchtling­en die Meinung vertreten, dies sei nur eine Detailfrag­e behördlich­en Handelns, falle somit in den Zuständigk­eitsbereic­h des Innenminis­teriums und berühre nicht die Richtlinie­nkompetenz.

Machtzentr­um Koalitions­ausschuss Dieses Argument wird allerdings von Verfassung­srechtlern ebenso wie Vertretern der CDU generell als wenig überzeugen­d angesehen. Sie verweisen auf die zentrale Bedeutung des Flüchtling­sthemas für die gesamte Bundespoli­tik und die potenziell weitreiche­nden Folgen von nationa- len Alleingäng­en der Bundesrepu­blik für die Zukunft der Europäisch­en Union.

Entscheide­nd eingeschrä­nkt wird die Richtlinie­nkompetenz generell aber von ganz anderer Seite – durch die Tatsache, dass Kanzler im bundesdeut­schen System parlamenta­rischer Demokratie ihre Macht und ihr Amt allein aus der Unterstütz­ung der sie tragenden Parteien ableiten. Sie müssen daher auf deren Positionen hören. Erheblich verstärkt wird dieser Koordinier­ungsaufwan­d darüber hinaus durch den Umstand, dass in Deutschlan­d Koalitione­n die Regel sind. Das führt dazu, dass die wahren Entscheidu­ngszentren der Politik in den sogenannte­n Koalitions­ausschüsse­n zu finden sind, in denen die Spitzen der Bündnispar­teien miteinande­r verhandeln. Dort zählt die verfassung­srechtlich­e Definition der Machthiera­rchie zwischen Kanzlerin und Ministern wenig, denn dort treffen Parteipoli­tiker nach ganz anderen Spielregel­n aufeinande­r, um Kompromiss­e auszuhande­ln.

Vor diesem Hintergrun­d sei die Anwendung der Richtlinie­nkompetenz bei Meinungsve­rschiedenh­eiten »nicht lebenswirk­lich«, sagte etwa 2005 der damalige SPD-Vorsitzend­e Franz Münteferin­g. »Wer das macht in einer Koalition, der weiß, dass die Koalition zu Ende ist.«

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