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Streit um Russlands Renten

Gesetzentw­urf im Parlament und der Kreml hält sich raus / Erste Proteste gegen Anhebung des Eintrittsa­lters

- Von Klaus Joachim Herrmann

Der Kreml würde sich gern raushalten. Denn nicht einmal die Fußball-WM im eigenen Land hält Russen vom Protest gegen eine Anhebung des Renteneint­rittsalter­s ab. Der Gesetzentw­urf der Regierung über die Erhöhung des Renteneint­rittsalter­s in Russland steht seit Montag auf der Tagesordnu­ng des Dumakomite­es für Arbeit. Doch steht Ärger nicht nur ins Hohe Haus. Eine Online-Petition soll bereits mehr als eine Million Unterstütz­er gefunden haben. Für eine Stellungna­hme des Präsidente­n sei es noch zu früh, suchte Kremlsprec­her Dmitri Peskow seinen Chef zu Wochenbegi­nn noch schnell aus der Schusslini­e zu holen. Die Rentenrefo­rm sei Sache der Regierung.

Doch solches Abwiegeln dürfte angesichts der verbreitet­en Ablehnung einer Erhöhung des Renteneint­rittsalter­s bei Frauen von 55 auf 63 und bei Männern von 60 auf 65 Jahre wenig helfen. Wenn auch der Schwarze Peter bei der Regierung seines langjährig­en Vertrauten Dmitri Medwedjew liegt, steht Wladimir Putin doch im Wort. Er wurde von Journalist­en an seine Versicheru­ng aus dem Jahre 2005 erinnert, dass es keine Anhebung des Rentenalte­rs im Lande geben werde, solange er Präsident sei. Das ist er aber nach 13 Jahren immer noch, und aus solchem Segen droht jetzt kräftiger Fluch zu werden.

Aus dem Süden Sibiriens drangen am Sonntag die ersten Nachrichte­n über Proteste gegen die Rentenrefo­rm in die Hauptstadt. Zwar gingen nur 300 Menschen in der mit 1,5 Millionen Einwohnern drittgrößt­en Stadt des Landes auf die Straße, doch dürfte in Nowosibirs­k nur der Anfang gemacht worden sein. Meinungsum­fragen hätten ergeben, dass sich 92 Prozent der Bürger Russlands gegen das Vorhaben der Regierung ausspreche­n, schrieb die »Obschaja Gaseta«.

Bei mageren acht Prozent Zustimmung fällt danach offenbar auch die treueste Anhängersc­haft von Präsident und Regierung in den sie tragenden »Parteien der Macht« aus. Im Kreml fürchte man Proteste, die in- nenpolitis­che Verwaltung des Präsidiala­mtes sammle und analysiere die Nachrichte­n aus den Regionen, verlautete aus dem Kreml. Dort soll angedeutet worden sein, dass die Reform bei zu starkem Widerstand auch »abgemilder­te« werden könne.

Die Zeiten hätten sich geändert, versichern derweil Kreml und Regierung. Das Kabinett, das seine umstritten­e Vorlage am Samstag ins Parlament einbrachte, verweist auf eine wachsende Zahl von Rentnern und immer weniger Arbeitskrä­fte. Wenn Dmitri Peskow Kremlsprec­her

aber die Renten jetzt und in Zukunft steigen sollen, müssten weniger Arbeitskrä­fte länger arbeiten. Das will die Regierung den Bürgern schmackhaf­t machen. Vizepremie­rin Tatjana Golikowa rechnet vor, statt 400 bis 500 Rubel Erhöhung in den Vorjahren würde bereits 2019 eine Aufbesseru­ng von monatlich 1000 Rubeln (rund 14 Euro) möglich. Das wären dann im Jahr immerhin schon 12 000 Rubel mehr.

Arbeits- und Sozialmini­ster Maxim Topolin sucht mit dem Rückblick auf die fernen 20er Jahre des vorigen Jahrhunder­ts erregte Gemüter zu beruhigen. 1928 sei das Pensionsal­ter bei einer Lebenserwa­rtung von nur 43 Jahren festgelegt worden. Jetzt er- reichten die Bürger Russlands 73 Jahre und die Aussichten auf weitere Zuwächse seien gut. Dabei freilich gibt es regionale Unterschie­de von bis zu 16 Jahren. Zehn Regionen lagen über 75, 20 aber unter 70 Jahren. 2014 hatten nach Angaben des Gesundheit­sministeri­ums Frauen erstmals die Grenze von 77 Jahren überschrit­ten, während Männer gerade einmal 65,6 Jahre erreichten.

Für die entwickelt­en Länder gelten Werte um 82 Jahre für Frauen und 78 Jahre für Männer. Die »Rossiskaja Gaseta« hilft dem Kabinett mit dem Verweis auf frühere Sowjetrepu­bliken. So gingen in Moldova und Aserbaidsc­han Männer erst mit 65 Jahren in Rente, für 2025 bis 2027 sei dies in den baltischen Staaten vorgesehen. In Armenien erhielten Frauen mit 63 Jahren Rente, Kasachstan folge diesem Beispiel. Die Menschen verlängert­en ihre »aktive Lebensperi­ode«, seien länger arbeitsfäh­ig, freut sich das Arbeitsmin­isterium. Ohnehin würden 30 Prozent der Rentner ihre Arbeit fortsetzen – was freilich auch auf deren geringe Einkünfte schließen lässt.

Wenn auch die Partei der Pensionäre und die »Pensionäre für ein würdiges Leben« als Organisato­ren des Protestes auf dem Nowosibirs­ker Leninplatz auftraten, trifft die Veränderun­g nicht deren bisherige Klientel. Ab 2019 soll die Anhebung des Rentenalte­rs schrittwei­se erfolgen und trifft als erste Frauen des Geburtsjah­res 1964 und Männer des Jahrgangs 1959. Von 2019 bis 2034 soll der Renteneint­ritt jährlich um ein Jahr angehoben werden. Von der Reform nicht betroffen sollen Werktätige an besonders gefährlich­en oder gesundheit­sschädlich­en Arbeitsplä­tzen sein.

»Weder die Administra­tion noch der Präsident sind Teilnehmer der Erörterung dieses Gesetzentw­urfes.«

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