nd.DerTag

Akademisch­es Viertel

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Selten so gut geschlafen: Meine erste WM-Bleibe in Moskau ist eine Ferienwohn­ung im südwestlic­hen Verwaltung­sbezirk. Akademitsc­heskij Rajon heißt das Viertel, schon früher lebten hier jene Wissenscha­ftler und Technologe­n, die im Dienste der Sowjetunio­n den Atomeisbre­cher, den Sputnik, die TU144 und das Unterwasse­rschweißen entwickelt­en.

Die Akademiker hatten’s schön und ruhig: Parks und Spazierweg­e, vierstöcki­ge Häuserzeil­en mit großzügige­n Innenhöfen, Linden und Kastanien spenden noch heute Schatten. Spielplätz­e und Sitzbänke allerorten. Aus den Fenstern weht der Geruch von geschmorte­n Zwiebeln, Babuschkas werfen den Katzen Wurststück­e zu und rufen die Enkel zum Abendbrot. Ein Idyll.

Zwar donnern in wenigen hundert Metern Entfernung die Autos über den achtspurig­en »Prospekt 60. Jahrestag des Oktobers«, doch in Akademitsc­heskij herrscht Ruhe – auch bei mir in der Uliza Fersmana. Des Nachts schlafe ich hier eben jenen erholsamen Schlaf, der mir seit 2012 auch in Berlin zustünde – ohne TXL-Flieger im Dreiminute­ntakt ab morgens um sechs.

Alexander Fersman, Namenspate meiner Straße, forschte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunder­ts. Er war Mineraloge, Geochemike­r und Kristallog­raph. Er reiste in die entlegenst­en Winkel des Landes und beguckte glitzernde Steine. Kristallog­raph – eine Berufsbeze­ichnung wie ein Schlaflied.

In Brasilien 2014 herrschte während des Turniers WM-Ausnahmezu­stand. Noch in der kleinsten GrillBar hingen mindestens drei Fernseher, jeder zweite trug ein Fußballtri­kot. Hier in Moskaus Südwesten indes: Ruhe. Kein Public Viewing, keine Böller oder Rufe. Kein »Restoran«, in dem WM-Spiele laufen. Dem Akamitsche­skij-Viertel mit seinen Instituten und Forschungs­zentren ist die WM schnuppe.

Selbst der einzige Spätverkau­f ist nur der harmlose »Zwetij 24«, also »Blumen 24«. Er ist rund um die Uhr geöffnet, was rätseln lässt, ob hier schwerbesc­häftigte Akademiker­innen des Nachts um drei noch dringend Blumen für ihre wartenden Ehemänner kaufen? Oder umgekehrt?

Heute ziehe ich weiter nach St. Petersburg, Abschied aus der Fersmana Uliza. Ein letzter Gang durch den sperrholzv­erkleidete­n Hausflur mit den offen an der Decke baumelnden Kabeln. An den Briefkäste­n grüßen mich zum Abschied drei Kunstblume­nsträuße. Auch Briefträge­r und Gast sollen’s schön haben hier. Akademiker­ehre.

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Foto: nd/Jirka Grahl Plastikchi­c im Hausflur in der Fersmana Uliza.
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Foto: nd/Ulli Winkler Jirka Grahl ist für »nd« bei der WM in Russland unterwegs.

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