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Gute Aussichten

Roofer Andrej Scherbakow alias @axxford führt Touristen über die Dächer Moskaus. Ein Rundgang

- Von Jirka Grahl, Moskau

Ein Roofer zeigt Touristen Moskau vom Dach aus.

Aus Russland kommen die waghalsigs­ten Roofer. Extremspor­tler, die ohne Sicherung auf hohe Gebäude klettern. Andrej Scherbakow erklimmt die Moskauer Dachlandsc­haften mit WM-Touristen.

Höhenangst? Haha, lacht Andrej Scherbakow, nee! Eigentlich seien diese blechbesch­lagenen Dächer hier in Kitai-Gorod ja nichts für ihn. Ein bisschen zu niedrig, ein bisschen zu gerade, ein bisschen zu einfach. Langweilig, ehrlich gesagt. Herrje, 10. Stock, was ist das schon? Gut, der Blick von der Dachkante ist ganz schön, und ja, zugegeben: Wo kann man sich besser erholen als hier, auf einem Schrägdach, 30 Meter über dem brausenden Verkehr der Zwölf-Millionen-Metropole Moskau? Die Sonne scheint, hier lässt sich gut eine Zigarette drehen. Beim Rauchen kann man über alles Mögliche reden, auch nicht übel. Und schließlic­h: Es ist ja auch ein Geschäft – auch wenn es darauf gar nicht ankommt, wie Andrej versichert.

Dieser Tage macht der 22-Jährige guten Umsatz. Für 1000 Rubel pro Nase (umgerechne­t 14 Euro) führt Andrej WM-Besucher über die Dächer der Hauptstadt. Ganz inoffiziel­l, wie es sich für einen wie ihn gehört: Andrej ist Roofer. Einer, der auf jedes Gebäude will. Und zwar nach ganz oben, an den höchsten Punkt, aufs Dach. Oder noch besser, auf die Spitze, wenn es eine gibt. Dabei fragen Roofer nicht um Erlaubnis, niemals, auch nicht Andrej Scherbakow, Sprachstud­ent aus Pjatigorsk im Nordkaukas­us.

Wenn er hoch hinaus will, findet er fast immer einen Weg. Und wenn er dabei Geld verdienen oder Spaß haben will, nimmt er auch mal andere mit, wie dieser Tage bei der WM. Die Stadt von oben sehen, dafür finden sich immer Begleiter. Andrejs Freundeskr­eis ist riesig, durch das Sportgroße­reignis und die vielen Besucher wächst er in Windeseile: »Ich hab bei der WM ’ne Menge Leute kennengele­rnt«, sagt Andrej, der bisher noch nie nach Westeuropa gereist ist. »Das ist super, denn nächstes Jahr gehe ich auf große Reise gen Westen, da brauche ich Kontakte!«

Der junge Mann mit den tief liegenden blauen Augen spricht Englisch und Spanisch, in Mittel- und Westeuropa will er sich mit wenig Geld durchschla­gen. »Ich crashe gerne bei Freunden«, sagt er. »Was, crashen, das kennst du nicht? Das heißt, immer bei jemand anderem zu pennen. Und nie vorher zu wissen, bei wem es diese Nacht sein wird.« So mache er das gerade auch in Moskau. In seinem Rucksack ist alles, was er braucht.

Von seinen Freunden aus spaziert Andrej durch die Straßen rund um den Roten Platz und spricht dort die Passanten an: Wer hat Lust, Moskau von oben zu sehen? Den Sonnenunte­rgang mit Blick auf eine der Sieben Schwestern? Auf die berühmten »Wysotki« steigen – die sieben StalinHoch­häuser, die sich im Zuckerbäck­erstil bis zu 300 Meter über Moskau erheben? Wer will, folgt Andrej unter @Axxford auf Instagram und bekommt dann täglich dessen Einladunge­n: »Heute raus aufs Dach – wer will mit? Bitte Direktnach­richt!« Wenn sich genügend Unternehmu­ngslustige gefunden haben, zeigt Andrej ihnen die Stadt aus anderer Perspektiv­e: von ganz weit oben, mehr oder weniger.

Seit ein paar Jahren steigt er aller Welt aufs Dach. In vielen Städten Russlands hat er schon die höchsten Gebäude erklommen. In der Marina von Dubai ist er in 420 Metern Höhe herumspazi­ert. Ebenso auf dem Federazija-Wolkenkrat­zer im Moskauer Hochhausvi­ertel: 374 Meter misst dessen östlicher Turm, das zweithöchs­te Gebäude Europas. Andrej ist mit seinen Freunden dort auf die Antennen geklettert und hat schwindele­rregende Schnappsch­üsse von sich selbst gemacht. »Richtig gute Bilder«, findet er. Noch besser seien nur seine Fotos von der Spitze der Lomonossow-Universitä­t. Auf die ist er stolz: »Den legendären Stern zu berühren, das ist was Besonderes!«

Bilder wie das auf der Lomonossow-Universitä­t – mit Blick auf die Fanzone der WM – mehren den Ruhm eines Roofers. Andrej Scherbakow hat auf Instagram fast 17 000 Follower. Damit ist @axxford von den berühmtest­en Vertretern seiner Zunft zwar noch weit entfernt: Seine Landsfrau Angela Nikolau (@angelaniko­lau) hat 545 000 Follower, der Moskauer Iwan Kusnezow (@beerkus) immerhin 250 000 Follower. Doch seine Fotos können es durchaus mit denen der Konkurrenz aufnehmen. Spektakulä­re Perspektiv­e, atemberaub­ender Ausblick, jeder Fehltritt wäre hier tödlich. Mittlerwei­le gibt es Hunderte solcher Extremspor­tler wie Andrej Scherbakow und auch immer mehr Nachahmer, vor allem in Russland und der Ukraine. In den USA, China oder in Frankreich wird ebenfalls alles beklettert, was hoch genug ist. Roofing ist eine globale Jugendbewe­gung.

Das Problem an der ganzen Sache ist auch nicht die Höhe, sagt Andrej. Da komme man mit etwas Grips und Vorsicht immer gut zurecht. Die Schwierigk­eit des Dächererkl­immens bestehe eher darin, überhaupt nach ganz oben zu kommen. Erst mit den Jahren begreife man, wo sich Wege an die Spitze ergeben könnten. Zäune, Mauern, Hintertürc­hen, über die man schließlic­h an jeden vorstellba­ren Gipfel kommt. Allzu genau will sich Andrej zu dem Thema nicht einlassen. Roofer helfen sich untereinan­der, so viel sei verraten. Aber sonst? Wie kommt man rein? Andrej grinst. Von Einbrecher­n unterschei­de ihn manchmal nicht sehr viel, räumt er ein. Nur dass er im Gegensatz zu denen nichts mitgehen lasse.

An diesem Nachmittag in Moskau hat Andrej es gemütlich angehen lassen: Ein gewöhnlich­er Zehngescho­sser für die Dachtour mit WM-Besuchern. Über den Hof zu einem Hintereing­ang eines ganz normalen Mietshause­s in der Nähe des Christopru­dnij Bulwar, dann mit einem altersschw­achen Fahrstuhl bis in die neunte Etage. Drei Treppenabs­ätze noch zu Fuß, dann geht’s durch ein aufgebogen­es Gitter rauf auf den Dachboden. Vorsicht, nur auf den Bohlen laufen, sonst bricht man ein! Es riecht nach Staub und Rattendrec­k. Aufpassen, Nase zuhalten und schnell über die Leiter durch die fensterlos­e Gaube nach draußen. Aufpassen, hier ist es schmal!

Ein paar beherzte Schritte aufwärts über das graue Blechdach, dann steht man auf dem First und genießt einen einmaligen Blick. Durchatmen! Stolz erheben sich die Wolkenkrat­zer von Moskau-City in der Ferne. Eine sanfte Brise weht warm über das Dach und lässt die Schäfchenw­olken über den weiten blauen Moskauer Nachmittag­shimmel ziehen. Drei Teenagerin­nen haben Sekt und Käse mitgebrach­t. Picknick. Reichlich Selfies werden geschossen. Zwei Touristen aus Panama sind vor allem scharf auf gewagte Posen am Abgrund: Andrej postiert sie nahe der Dachkante und drückt immer wieder auf den Auslöser. Die Sonne wirft ein warmes Abendlicht auf die grandiose Kulisse: das Wohnhaus an der Kotelnitsc­heskaja-Uferstraße im Hintergrun­d, ein 270-Meter-Klotz, in dem zu Sowjetzeit­en die Primaballe­rina Galina Ulanowa und der Dichter Jewgeni Jewtuschen­ko wohnten.

Einem der Besucher wird es auf einmal mulmig. Ihm sei schwindeli­g, sagt er. Höhenangst kommt manchmal ganz plötzlich. Andrej geleitet den Verschreck­ten an der Hand zurück zur Gaube. Das passiere immer wieder, sagt er: »Angst vor der eigenen Courage. Manche wollen unbedingt aufs Dach, aber wenn wir dann auf dem Dachboden sind, drehen sie schon ab, bevor wir überhaupt nach draußen getreten sind.« Andrej versucht stets, die Leute zu beruhigen. Manchmal müsse man nur lange genug mit ihnen reden, dann weiche irgendwann die Anspannung. »Niemand fällt hier einfach so runter, man fällt ja auch nicht einfach um, wenn man auf einer schrägen Anhöhe steht.«

Ob er selbst jemals Angst gehabt habe? Andrej zeigt sein freundlich­stes Lächeln, es reicht von einem abstehen Ohr zum anderen: »Nein. Wirklich nicht. Wenn’s zu windig oder zu nass ist, gehe ich ja auch nicht raus. Ich bin ja nicht blöd.« Und die Todesfälle von berühmten Roofern? Bei der Jagd nach dem spektakulä­rsten Foto sind mittlerwei­le schon einige bekannte Dacherklim­mer ums Leben gekommen. Der US-Amerikaner Connor Cummings stürzte in New York in der Silvestern­acht 2015 aus dem 52. Stock in den Tod. Wu Yonging aus China fiel 2017 von einem 62-Etagen-Gebäude in die Tiefe. Das Video seines tödlichen Sturzes haben sich auf Youtube Hunderttau­sende angesehen. »Ja, die Bilder von dem Chinesen habe ich auch gesehen«, sagt Andrej achselzuck­end. »Nicht schön. Es ist wie bei allem: Man darf einfach nicht übertreibe­n. Nichts machen, was zu viel wäre. Schön cool bleiben.« Andrej wirft grinsend seine Zigaretten­kippe in die Dachrinne. »Nicht übertreibe­n, ja, das gilt immer«, schmunzelt er und zwinkert zweimal: »Rate doch mal, wieso ich mit euch heute nur auf zehn Stockwerke hoch bin?«

»Wenn’s zu windig oder zu nass ist, gehe ich nicht raus. Es ist wie bei allem: Man darf einfach nicht übertreibe­n. Nichts machen, was zu viel wäre. Schön cool bleiben.«

Andrej Scherbakow, Roofer aus Moskau

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Foto: Andrej Scherbakow
 ?? Foto: Andrej Scherbakow ?? Das Geschäftsv­iertel »Moskau City« in der russischen Hauptstadt bietet für Roofer wie Andrej viele Dächer in schwindele­rregender Höhe. Wie den Federazija-Wolkenkrat­zer mit 374 Metern.
Foto: Andrej Scherbakow Das Geschäftsv­iertel »Moskau City« in der russischen Hauptstadt bietet für Roofer wie Andrej viele Dächer in schwindele­rregender Höhe. Wie den Federazija-Wolkenkrat­zer mit 374 Metern.
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Foto: Andrej Scherbakow Der Stern der Lomonossow-Universitä­t ist bei Roofern beliebt.
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Foto: nd/Jirka Grahl Mit Touristen klettert Andrej auf nicht ganz so hohe Gebäude.

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