nd.DerTag

Nichts ist vorbei

Bundesweit­e Demonstrat­ionen unter dem Motto »kein Schlussstr­ich« / Angehörige fordern weiteres Verfahren

- Von Sebastian Bähr

Nach Ende des NSU-Verfahren üben Opfer-Angehörige und Demonstran­ten lautstarke Kritik. Die Urteile seien teilweise unangemess­en, Fragen blieben weiter unaufgeklä­rt. Die Urteile mögen nun im NSU-Verfahren gesprochen worden sein. Demonstran­ten, Opfervertr­eter und Politiker machen jedoch deutlich, dass ein Großteil der Aufklärung der rechtsterr­oristische­n Verbrechen noch aussteht. Auch die Ergebnisse des Prozesses werden kritisiert.

Die Opferanwäl­te der Nebenklage zeigten sich in einer gemeinsame­n Erklärung »nicht nur enttäuscht, sondern auch wütend« über das Urteil. Kritisiert wurden vor allem die als zu milde empfundene­n Haftstrafe­n gegen André Eminger und Ralf Wohlleben. Die Staatsanwa­ltschaft hatte zwölf Jahre Haft für Eminger wegen Beihilfe zu den Morden gefordert, zum Schluss bekam er zweieinhal­b Jahre wegen Unterstütz­ung einer terroristi­schen Vereinigun­g. Als der Richter am Mittwoch verkündete, dass Eminger sofort frei kommt, brach unter den anwesenden Neonazis Jubel aus.

»Unerträgli­ch ist für die Angehörige­n der Mordopfer, dass die milde Strafe gegen Eminger als Bestätigun­g seines Auftretens aufgefasst werden muss«, erklärten die Nebenkläge­r. Eminger hat auf seinem Bauch »Die Jew Die« (stirb Jude, stirb) tätowiert, darüber das Symbol der SS-Totenkopfv­erbände.

Auch die Verurteilu­ng von Ralf Wohlleben zu zehn Jahren Gefängnis wird als zu gering kritisiert. Die thüringisc­he Landtagsab­geordnete Katharina König-Preuss wies auf die besondere Rolle von Wohlleben sowohl für das NSU-Netzwerk als auch für die Neonazi-Szene hin. »Wohlleben ist nach wie vor ein überzeugte­r Neonazi, der, während seine untergetau­chten Freunde mordend durch die Bundesrepu­blik zogen, die ideologisc­he Begleitung in Form von Blood&Honour-Konzerten organisier­te.« Im Zuge des Prozesses sei er zur Ikone der Neonazisze­ne geworden, auf rechtsradi­kalen Konzerten sammele man Geld für seine Unterstütz­ung. Laut König-Preuss müsse angesichts der langen Untersuchu­ngshaft befürchtet werden, dass Wohlleben bereits im nächsten Jahr aus der Haft entlassen werden könnte. Die Politikeri­n befürchtet, dass Wohlleben danach als »Märtyrer« der Szene zurückkomm­e.

Die Nebenkläge­r kritisiert­en in ihrer Erklärung weiterhin die Verengung von Bundesanwa­ltschaft und Gericht auf ein isoliertes »Tätertrio« sowie die Rolle der Behörden im NSUKomplex. "Das Gericht stellt den NSU als abgeschott­etes Trio dar, das bereits vor dem Untertauch­en seine Entscheidu­ngen alleine traf. Es spricht auch die Ermittlung­sbehörden davon frei, dass sie Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe nach deren Untertauch­en hätten finden können und müssen.« Der Verfassung­sschutz und »die strukturel­l rassistisc­hen Ermittlung­en zu Lasten der Angehörige­n der Opfer« würden gar nicht erwähnt. Man hoffe nun auf eine weiteres Verfahren, dass auch den Staat juristisch zur Verantwort­ung zieht. »Wir möchten, dass ein Gericht in Deutschlan­d feststellt, dass der Staat versagt hat«, sagte die Anwältin der Familie des ersten NSU-Opfers Enver Simsek, Seda Basay, am Donnerstag.

Der Anwalt Mehmet Daimagüler wies zudem auf das institutio­nelle Versagen hin, das in seiner Tragweite nicht eingestand­en werde. »Das Gerede von Ermittlung­spannen ist eine Verniedlic­hung und Verharmlos­ung«, sagte er. »Was wir hier haben, hat System.« König-Preuss warnte, dass das Agieren der Sicherheit­sbehörden im Zusammenha­ng mit dem NSU nicht als Bagatelle betrachtet werden dürfe. Die Abgeordnet­e hatte am Mittwoch in drei Fällen Strafanzei­ge ge-

»Wir möchten, dass ein Gericht in Deutschlan­d feststellt, dass der Staat versagt hat.«

Anwältin der Familie des ersten NSU-Opfers Enver Simsek gen Mitarbeite­r Thüringer Sicherheit­sbehörden gestellt, die nach ihrer Auffassung durch dazu beigetrage­n hatten, dem NSU das Untertauch­en zu ermögliche­n oder ihn unterstütz­ten.

Politiker unterschie­dlicher Parteien wiesen darauf hin, dass es eine weitere Aufarbeitu­ng der NSU-Verbrechen benötige. »Die Ermittlung­en müssen wegen des rechtsextr­emistische­n Umfelds weitergehe­n«, erklärte die frühere Bundesjust­izminister­in Sabine Leutheusse­r-Schnarrenb­erger (FDP). Der ehemalige Chef des zweiten NSU-Untersuchu­ngsausschu­sses im Bundestag, Clemens Binninger (CDU), stellte fest: »Die wichtigste offene Frage ist nach wie vor, war der NSU wirklich nur ein Trio?«

Zumindest Tausende Demonstran­ten beantworte­ten die Frage am Mittwochab­end eindeutig mit einem »Nein«. Bundesweit gingen sie unter dem dem Motto »Kein Schlussstr­ich« auf die Straße. In München liefen Angehörige der NSU-Opfer vor 3000 Demonstran­ten mit Bildern der Ermordeten. In Berlin hatten rund 1000 Menschen protestier­t. Rob Seedorf vom Bündnis »Irgendwo in Deutschlan­d« sagte zu »nd«: »Die Aussage des Prozesses ist klar: man will abhaken, was passiert ist und es soll ein Schlussstr­ich gezogen werden.« Alleine bei den G20-Prozessen habe es längere Strafen für das Werfen von Flaschen gegeben. »Wir erwarteten wenig und sind dennoch enttäuscht worden.«

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Fotos: dpa/Lino Mirgeler/Danny Gohlke
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