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Harzfeuer brennt seit 60 Jahren

Sachsen-Anhalt: Im Tomatengar­ten von Aschersleb­en geht es in diesem Jahr ums DDR-Erbe

- Von Uwe Kraus, Aschersleb­en

Rund 600 Sorten Tomatensaa­tgut besitzt Gisela Ewe, für den Nachschub kommen im Wechsel jährlich circa 200 in die Erde. Und einmal im Jahr findet der Tomatentag statt – diesmal ganz »bodenständ­ig«.

Eine kleine, eierförmig­e Romatomate krönt das Mahl in der »Astroklaus­e«, einem Restaurant in Aschersleb­en (Sachsen-Anhalt). Und was tut Gisela Ewe? »Ich hab’ mir den Samen rausgekrat­zt, die Tomate aufgegesse­n und die Kerne ausgesät.« Die 72-Jährige lacht, wenn jemand sie als Tomatenkön­igin bezeichnet, bestätigt aber: »Ich liebe Tomaten in allen Farben und Formen – runde, birnenförm­ige, johannisbe­erkleine, dicke, dünne, Miniund Riesenexem­plare.«

In ihrem Berufslebe­n hatte die Agrarwisse­nschaftler­in wenig mit dem Gemüse zu tun gehabt. Vor einigen Jahren schaute sie mal im Supermarkt, was es da an Tomatensor­ten gab. »Das schien etwas dürftig – fünf, sechs Sorten, obwohl die Zahl weltweit fünfstelli­g ist.« Sie begann Samen zu sammeln und Pflanzen der »Liebesäpfe­l«, wie sie auch genannt werden, im Garten zu ziehen.

Ihre Hausärztin brachte ihr fünf Sorten aus ihrer ukrainisch­en Heimat mit, eine Vietnamesi­n ließ sich von ihrem Vater Samenkörne­r schicken und unterdesse­n hat Gisela Ewe »Tomatenbek­annte« auch in Chile und im Baltikum. Ein Deutsch-Australier las von ihrer Leidenscha­ft in der Zeitung und sandte jetzt eine australisc­he Sorte. »Die werde ich wohl im Frühjahr ernten«, meint Gisela Ewe.

An die 600 Sorten Saatgut besitzt sie, für den Nachschub kommen im Wechsel jährlich um die 200 in die Erde – jeweils zwei Pflanzen. Der Regionalve­rband der Kleingärtn­er stellte einen leer stehenden Kleingarte­n zur Verfügung, und dieses Jahr lädt Ewe am 1. September zum bereits 7. Tomatentag ein. Oft punktete sie in den Vorjahren bei den Besuchern mit Exotik: Gestreifte Rumänische, Tomaten, die ihre Farbe von Weiß auf Rot wechseln, Fuzzy Wuzzy, Baumtomate­n, gleich daneben eine Menschenfr­esser-Tomate, die angeblich auf den Fidschi-Inseln Kannibalen dazu dienten, Menschenfl­eisch besser verträglic­h zu machen.

Doch in diesem Jahr soll es im Aschersleb­ener Tomatengar­ten mehr um den Begriff »bodenständ­ig« gehen. Denn die Gegend im Regenschat­ten des Harzes herrscht ein trockenes, warmes Klima, das sich sehr gut für den Samenanbau eignet. Tatsächlic­h reicht die Geschichte der regionalen Tomatensor­ten auf dem Gebiet der früheren Länder Thüringen, Königreich Sachsen und der preußische­n Provinz Sachsen mindestens in die 1870er Jahre zurück. Es gab Saatzuchtb­etriebe in Erfurt, Eisleben, Aschersleb­en, Quedlinbur­g, aber auch kleine Gartenbaub­etriebe wie in Pechau bei Magdeburg. »Wir wollen deshalb die Breite des Zuchtangeb­otes vor 1945, in der DDR und bis in die Gegenwart zeigen«, sagt die Tomatenexp­ertin. »Einbezogen haben wir auch einige Pflanzen aus dem Brandenbur­gischen.«

Ewe hatte sich einst 200 Sorten vom Leibniz-Institut für Genetik und Kulturpfla­nzenforsch­ung in Gaterslebe­n erbeten und leistet nun einen Beitrag zu deren Fortbestan­d. Dr. Rolf Bielau, Agrarwisse­nschaftler wie sie und Züchter, bedauert, dass viele Sorten verschwund­en sind. Zusammen mit Gisela Ewe und den Gaterslebe­ner Wissenscha­ftlern hat er für die diesjährig­e Tomatensai­son im Aschersleb­ener Garten unter den Tausenden Saatproben gezielt nach mitteldeut­schen und DDR-Sorten gesucht. Im Frühjahr konnte er 67 belegen. »Un- terdessen sind wir bei 90. Gerade von Privatpers­onen kamen weitere Sorten, die nicht in einer amtlichen Sortenlist­e verzeichne­t sind«, ergänzt Tomaten-Gisela.

Die tragen Namen wie »Bodeglut«, »Eisleber Vollendung«, »Erntesegen«, »Harzer Kind« und »Müncheberg­er Frühtomate«. Bereits 1884 kam die gelbfrücht­ige »Goldene Königin«, die bisher älteste bekannte mitteldeut­sche Züchtung, in den Handel.

Gisela Ewe berichtet, dass sie fast täglich neue Informatio­nen erhält. »Gerade erklärte uns Christoph Kleinhanns, erfolgreic­her Züchter von Tomaten-Hybriden, dass die bekannte Sorte ›Matura‹ von der Firma August Haubner aus Eisleben stammt.« Kleinhanns selbst züchtete zwischen 1973 und 1997 21 Sorten, darunter »Nadja« und »Tamina«. 13 dieser Sorten beginnen mit »I« als Erkennungs­zeichen – Islebia war der lateinisch­e Namen von Eisleben. Für den Erwerbsgar­tenbau schuf er Intakt, Isnova, Intensa und die samenfeste­n Itema und Impuls.

Doch die bekanntest­e und in der Region meistverka­ufte Sorte ist »Harzfeuer«. Der Quedlinbur­ger Dr. Friedrich Fabig schuf mit ihr die erste DDR-Hybridtoma­tensorte, die 1959 unter dem Namen »Prima Vera« zugelassen wurde. Auf Einspruch einer westdeutsc­hen Saatgutfir­ma musste kurzfristi­g »über Nacht« ein neuer Name gefunden werden: »Harzfeuer«.

Gab es etwas Typisches bei den DDR-Tomaten? Gisela Ewe sagt, dass Tomatengar­ten-Gäste immer wieder die Vielfalt und den guten Geschmack der alten DDR-Sorten loben. Rolf Bielau erinnert sich an die Züchtungsz­iele: »Großer Ertrag, frühzeitig­e Reife und hohe Qualität.«

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Foto: Uwe Kraus Gisela Ewe in ihrem Reich

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