Japan ist »Katastrophen-Vorbild«
Experten: In jedem anderen Land wären viel mehr Menschen gestorben
Trotz der hohen Opferzahlen durch die Regenfälle vergangene Woche erntet Japan unter Experten viel Anerkennung. Anderswo wären wohl mehr Menschen gestorben.
Tagelang strömte es pausenlos vom Himmel, aus Straßen machte der Regen Bäche, aus Häusern Inseln. Nachdem es eine halbe Woche durchweg gegossen hatte, sagte Premierminister Shinzo Abe eine Reise nach Europa ab, wo er einen seit Jahren geplanten Handelsvertrag mit der EU unterzeichnen sollte. Stattdessen wurden alle Kräfte mobilisiert, um Westjapan vor noch größerem Unheil zu bewahren. Eine Woche nach Beginn des Regens ab 5. Juli gab es mehr als 200 Tote. Das gesamte Ausmaß des Schadens wird allmählich sichtbar.
Außerhalb der ostasiatischen Industrie- und Hochtechnologienation, wo die schnellsten Züge fahren und die klügsten Roboter entstehen, fragen viele: wie kann ein Unwetter ausgerechnet in Japan derartige Verwüstung anrichten? Müsste ein reiches Land, das oft mit Naturkatastrophen zu kämpfen hat, nicht so gut vorbereitet sein, dass höchstens finanzielle Schäden zu verbuchen wären?
Im Widerspruch zu solchen Eindrücken steht ein Urteil der World Meteorological Organization (WMO), die internationale Vereinigung von Wetter- und Katastrophenschutzexperten: »Japan ist von allen Ländern der Welt am besten vorbereitet, wenn es darum geht, das Katastrophenrisiko zu minimieren und auf Katastrophen zu reagieren«, befand WMOSprecherin Clare Nullis. Was die Regenfälle der letzten Tage nämlich wirklich aussagten: »Die Höhe der Opferzahlen sind ein Anzeichen dafür, wie schwer die Katastrophe war.« In jedem anderen Land wären wohl deutlich mehr Menschen gestorben. Schließlich wurden in einigen Regionen die stärksten Niederschläge seit Beginn der Wetteraufzeichnungen im Jahr 1976 gemessen.
Unter Experten gilt Japan als Vorbild, was die Antwort auf Desaster wie das aktuelle Unwetter angeht. Der Direktor des Klimazentrums vom Internationalen Roten Kreuz, Maarten van Aalst, zeigte sich von der Geschwindigkeit der Rettungsoperation beeindruckt: »Es ist beachtlich, wie das Land es schafft, so viele Menschen und Ressourcen in so kurzer Zeit zu bewegen.« Von zentraler Bedeutung ist die von Premier Abe aktivierte Task Force, die mehrere Ministerien umspannt und schon zu Beginn der Regenfälle 75 000 Hilfskräfte auf die betroffenen Regionen konzentrierte, von Polizei über Feuerwehr bis zur Küstenwache. 80 Helikopter waren im Einsatz. Immerhin waren zunächst ganze Dörfer vom Schlamm erstickt.
An 3,6 Millionen Menschen gingen noch vor Beginn der Regenfälle Evakuierungsanordnungen. Durch die Meteorologiebehörde erhielten viele Bürger die Nachricht per App auf das Smartphone. Unterschlupf fanden die Evakuierten in Schulen oder Turnhallen. Per Lkw wurden Frischwasser und Nahrung verteilt. Die Task Force machte 15 Millionen Euro für Soforthilfen locker.
In Japan haben sämtliche Städte eigene Katastrophenpläne, in denen Evakuationswege sowie Zuständigkeiten zwischen Feuerwehr, Polizei und weiteren Trägern öffentlicher Sicherheit erklärt sind. Landesweit sind die meisten Flüsse mit Deichen umbaut, neuere Häuser liegen häufig auf Anhöhen. Arbeitgeber müssen alle paar Monate Evakuierungsübungen durchführen, in Büros lagern Überlebenspakete. Die Leute verhalten sich meist auch dann ruhig und kooperativ, wenn eine akute Situation allen Anlass zur Nervosität gäbe. Laut einer Studie ist die Überlebensrate zudem dort besonders hoch, wo der soziale Zusammenhalt stark ist, was tendenziell auf Dörfer zutrifft.
Beim aktuellen Unwetter waren hohe Opferzahlen vor allem dort zu vermelden, wo Menschen entgegen den Anordnungen zu Hause blieben. Laut Takashi Okuma, Katastrophenschutzexperte der Universität Niigata im Nordwesten Japans, standen außerdem viele ältere Wohnhäuser, die vom Regen und dadurch ausgelösten Erdrutschen erfasst wurden, neben Waldhängen. Zwar waren solche Risiken in den Datenbanken der Behörden bereits erfasst, neue Sicherheitsvorkehrungen aber noch nicht abgeschlossen. »Die Regierung ist schon sehr gut vorbereitet, was Erdbeben angeht.« Aber bei Regenfällen finde derzeit ein Anpassungsprozess statt.
Naturkatastrophen gehören in Japan zur Lebensrealität – Tendenz steigend. Extremregen führte im Sommer 2014 zu Erdrutschen, in Westjapan starben 75 Personen. 2015 richteten starke Niederschläge im Osten und Nordosten schwere Schäden an. Im Sommer kamen 90 Menschen in einer Hitzewelle um, über 11 000 wurden ins Krankenhaus eingeliefert. Im August 2016 starben 22 Menschen im Norden durch einen Taifun. Studien zeigen, dass Häufigkeit und Intensität von Wirbelstürmen stark zugenommen haben, ebenso Hitzewellen und starke Niederschläge.
So ist in Japan diesmal, trotz der vergleichsweise erfolgreichen Rettungen, eine Debatte darüber losgebrochen, ob man gut genug war. In der Präfektur Okayama, die von den Niederschlägen besonders betroffen waren, äußerten mehrere Einwohner, dass sie womöglich in eine andere Region ziehen würden, weil sie sich nicht mehr sicher fühlten. Lokalregierungen haben angekündigt, nach dem Abklingen der Katastrophe durch die Häuser zu ziehen, um Vorschläge für eine künftig bessere Vorbereitung einzusammeln. Zudem kritisierte »Asahi Shimbun«, nach Auflage die zweitgrößte Tageszeitung der Welt, zwischen den Zeilen die Handhabung einer neuen Richtlinie. Seit 2013, zwei Jahre nach dem verheerenden Erdbeben und Tsunami, besteht das Prinzip der »Sonderwarnungen«, die von der Regierung dann ausgegeben werden, wenn in einer bestimmten Region des größte Unheil der vergangenen 50 Jahre zu erwarten ist: »Seitdem wurde eine ›Sonderwarnung‹ über starke Regenfälle in fast jedem Jahr in irgendeiner Region des Landes erteilt. Diese war das achte Mal. Was einst als außergewöhnlich angesehen war, hat sich als normal herausgestellt.« Womöglich haben einige Menschen die Evakuierungsanordnungen nicht mit vollem Ernst befolgt. In den allermeisten Fällen allerdings hat das Prinzip funktioniert.