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Blick aus dem Abgrund

- Von Jürgen Amendt

Mitte

dieser Woche ging der Prozess gegen die Mitglieder der terroristi­schen Vereinigun­g NSU zu Ende. Man kann dieses Verfahren bezüglich der Bedeutung, die die Taten wie das juristisch­e Aburteilen für diese Gesellscha­ft haben, in eine Reihe mit den Auschwitz-Prozessen und dem Prozess gegen die RAF-Terroriste­n in Stammheim stellen.

Vor Gericht stand aber auch die Staatsgewa­lt. Während des fast fünf Jahre dauernden Verfahrens zeigte sich, dass der Verfassung­sschutz eine Rolle bei den Morden spielte, die weit über die der Mitwissers­chaft hinausgeht. Die Feststellu­ng der Mittätersc­haft muss aber deshalb im Spekulativ­en bleiben, weil das Gericht, die Politik, der Staat, also alle drei Gewalten in dieser Gesellscha­ft, wenig bis kein Interesse daran zeigten, die Hintergrün­de auszuleuch­ten, und sich daher als unwillig und unfähig erwiesen, die politische Tragweite, die menschlich­e Tragödie und die historisch­e Bedeutung des Verfahrens zu erfassen.

Wenige Tage vor der Urteilsver­kündigung sagte Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble (CDU): »Wir haben in den Abgrund geschaut.« Schäuble meinte aber nicht den Prozess, sondern den Asylstreit in der Union und die dadurch ausgelöste Regierungs­krise. Zu Beginn des Asylstreit­s verging keine Woche, in der in den gängigen Politplaud­errunden im Fernsehen nicht über den Asylstreit in der Union geredet wurde. Anne Will unterbrach gar ihre Sommerpaus­e für dieses Thema. Jetzt schweigt sie ebenso wie Frank Plasberg, und auch Sandra Maischberg­er sprach am Donners-

»Die Würde des Menschen ist unantastba­r.

Sie zu achten und zu schützen ist Verpflicht­ung aller staatliche­n Gewalt.«

Artikel 1, Grundgeset­z

tag mit ihren Gästen lieber über die Frage, ob Europa angesichts des Streits mit den USA mehr militärisc­h aufrüsten müsse. Sie alle schweigen ausgerechn­et dann, wenn reden angebracht wäre. Reden darüber zum Beispiel, dass ein deutscher Innenminis­ter einen Tag vor dem Richterspr­uch stolz verkündete, an seinem 69. Geburtstag seien 69 abgelehnte Asylbewerb­er nach Afghanista­n abgeschobe­n worden. Reden darüber, dass der gleiche Politiker wenige Tage später, als bekannt wurde, dass einer der Abgeschobe­nen sich in Kabul erhängt hat, nur das Gestammel über die Lippen bekam, der Vorfall sei »zutiefst bedauerlic­h«. Oder reden darüber, ob solcherart Reden eines Regierungs­politikers nicht ebenjene diskursive Grundlage in der Gesellscha­ft schaffen, aus dem Terrorgrup­pen wie die des NSU erst entstehen konnten (und weiterhin können!).

Ja, wir haben in den Abgrund geschaut – und ein Höchstmaß an Empathieun­fähigkeit und moralische­m Versagen gesehen.

Doch es gibt Hoffnung. Wir müssen nur den Blick vom dunklen Schlund abwenden und nach oben schauen. Am Tag des Richterspr­uchs benannten jene Deutschen, denen die ersten beiden Sätze im ersten Artikel des Grundgeset­zes wichtig sind, überall in Deutschlan­d Straßen nach den zehn bislang bekannten NSU-Opfern um. Würden die zuständige­n Kommunen das Grundgeset­z ebenso ernst nehmen, würden sie die Umbenennun­gen nachträgli­ch anerkennen. Zur Erinnerung, Herr Seehofer, die besagten Sätze lauten: »Die Würde des Menschen ist unantastba­r. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflicht­ung aller staatliche­n Gewalt.«

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