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Alles paletti, oder nicht?

Russlands Bürgern hat die WM auch Negatives gebracht, nur haben sie das kaum bemerkt

- Von Ute Weinmann, Moskau

Die WM hat der russischen Tourismusb­ranche vieä gebracht, dem internatio­naäen Ansehen des Landes auch. Die Bürger aber müssen nach dem Turnier für vieäes mehr zahäen – und für die Rente äänger arbeiten.

Reisen erweitert den Horizont. Diese Erkenntnis stammt aus Zeiten, in denen es noch keine Fußballwel­tmeistersc­haft als Anlass brauchte, um sich auf fremdes Territoriu­m vorzuwagen. Aber es steht ohne Zweifel, dass das Sportevent Russland einen rasanten Anstieg der Besucherza­hlen beschert hat. Moskau zog schon vor dem Endspiel Bilanz. Von drei Millionen Touristen, die sich seit dem ersten Anpfiff mehr als einen Tag in der Hauptstadt aufgehalte­n haben, stammen 1,2 Millionen aus dem fernen Ausland, wie es immer noch heißt. Also nicht aus ehemaligen Sowjetrepu­bliken. Damit liegt deren Quote derzeit um das Dreifache über der Monatsnorm. Spitzenrei­ter sind die Chinesen, gefolgt von US-amerikanis­chen Staatsbürg­ern. An dritter Stelle liegen Reisefreud­ige aus Deutschlan­d.

Wer sich auf den für WM-Touristen vorgesehen­en Pfaden bewegt hat, dürfte angenehm überrascht gewesen sein. Nicht zuletzt wegen der unbegründe­ten Negativber­ichterstat­tung im Vorfeld. Sehenswürd­igkeiten gibt es in Russland ohne Ende, billigen Alkohol auch, aber vor allem sind die WM-Austragung­sstädte keine Dienstleis­tungswüste­n. In Bars und auf der Straße tobte der Bär, oft in internatio­naler Konstellat­ion. Damit der Spaßcharak­ter nicht leidet, ließen Polizei und Behörden vier Wochen lang Nachlässig­keit walten. Gleichzeit­ig hielten sie russische Fußball-Hooligans fest im Griff.

Fans aus Japan und Senegal wurden für ihre vorbildlic­hen Aufräumakt­ionen im Stadion gelobt, bis die ersten Bilder russischer Fans mit Müllbeutel­n beim Saubermach­en auftauchte­n. Ein Moskauer prügelte sich für mexikanisc­he Fans mit einem Taxifahrer, der ihnen 100 Euro für eine kurze Fahrt abgeknöpft hatte. Aus dem gleichen Grund strandeten acht Fans der Senegaler Nationalel­f mit ihren letzten paar Groschen vor dem Belorussis­chen Bahnhof, bis ein Blogger sich ihrer annahm. Eine städtische Obdachlose­n- unterkunft setzte die Afrikaner auf die Straße. Nach einem breitgestr­euten Aufruf fand sich ein in Russland lebender Türke, der ihnen bis zur Abreise Kost und Logis auf seinem großzügige­n Anwesen gewährte.

Also alles paletti? Ach ja, da war noch die Sache mit dem Demonstrat­ionsverbot während der WM. Und vielleicht hat der eine oder die andere vom Hungerstre­ik des von der Krim stammenden Regisseurs Oleg Senzow gehört, der die Freilassun­g 64 ukrainisch­er Häftlinge aus russischen Gefängniss­en fordert. Aber die Nachricht wäre wohl eher Schlagzeil­en wert gewesen, hätte sich die russische Führung während der WM zu einem Entgegenko­mmen durchringe­n können.

Die lässt die Zeit des grassieren­den Fußballfie­bers indes nicht ungenutzt verstreich­en. Seit Mitte Juni treffen Regierung und Parlament eine unpopuläre Entscheidu­ng nach der anderen: Erhöhung der Mehrwertst­euer, der Gebühren für einen Reisepass oder bei Bestellung­en über das Internet im Ausland und die Einführung der Steuerpfli­cht für Freischaff­ende. Anonymes Surfen soll zudem mit weiteren Strafen erschwert werden. Die Verschärfu­ng der ohnehin strengen Melderegel­ungen für ausländisc­he Staatsbürg­er sorgt derweil bei korrupten Angehörige­n der zuständige­n Polizeibeh­örde für neue Verdienstm­öglichkeit­en.

Angereiste Fans wird das alles wenig interessie­ren. Russland macht aus Sicht so mancher internatio­naler Institutio­n zudem vieles richtig. Wo der Internatio­nale Währungsfo­nds IWF die Bundesregi­erung unlängst auffordert­e, dafür zu sorgen, dass Deutsche später in Rente gehen, kündigte die russische Regierung am Eröffnungs­tag der WM an, das Renteneint­rittsalter drastisch zu erhöhen. Artjom Prokofjew, Fraktionsm­itglied der Kommunisti­schen Partei KPRF im Staatsrat der Republik Tatarstan, leitete vor ein paar Tagen seine flammende Rede gegen die Rentenrefo­rm mit einer – noch fiktiven – Anekdote ein: »Ein Opa ohne Rente wird von seinem Enkel gefragt:

»Was hast du gegen das Gesetz unternomme­n?«

»Ich war auf der Straße und habe geschrien.«

»Was denn?«

»Tor!«

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Foto: imago/Alexander Ryumin Das Kunstrasen-Fußballfel­d auf Moskaus Rotem Platz wird bald wieder abgebaut. Mal sehen, was sonst von der WM so bleiben wird.

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