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Fahren in der »Waschmasch­ine«

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Die Tour de France sucht immer wieder das Spektakel. Das muss sie auch. Schließlic­h geht es um die rare Ressource Aufmerksam­keit. Eine Rundfahrt alter Prägung – erste Woche Flachetapp­en, dann Alpen oder Pyrenäen, danach Pyrenäen oder Alpen und zwischendr­in mal ein Zeitfahren oder eine Überführun­gsetappe durchs Mittelgebi­rge – ist mit den immer kürzer werdenden Aufmerksam­keitsspann­en des Fernseh- und Livestream-Publikums nicht mehr vereinbar.

Das denken jedenfalls die Veranstalt­er, die ihr Sportevent nun mal über Werbegeld und vor allem Übertragun­gsrechte finanziere­n. Auch die Fernsehsen­der können sich nur refinanzie­ren, indem sie Werbekunde­n Reichweite­n und Einschaltq­uoten verspreche­n können.

Es muss also Abwechslun­g her, Miniklassi­ker wie etwa die 5. Etappe durchs Finistère, wegen der vielen Hügel »das kleine Lüttich-BastogneLü­ttich« genannt. Einen Tag später musste das Feld gleich zwei Mal die »Mauer der Bretagne« hochjagen. Sogar zwei Mal Alpe-d’Huez war bei der Tour schon einmal im Angebot.

Am Wochenende werden mal wieder die Pflasterst­einpassage­n des Frühjahrsk­lassikers Paris-Roubaix für Abwechslun­g sorgen. 15 Abschnitte von insgesamt 21,7 Kilometern Länge sind in den Parcours am Sonntag eingebaut. »Das macht das Rennen interessan­ter«, ist sich Tourchef Christian Prudhomme sicher. Es macht das Rennen auch gefährlich­er. Klassement­fahrer, die sich bei Sprintetap­pen schon vorn im Feld drängen und alles dichter machen, was dann ganz folgericht­ig zu Stürzen führt, sind bei den Pflasterst­einabschni­tten ganz besonders drauf erpicht, an der Spitze zu fahren. »Jeder sportliche Leiter wird sagen: Be- sonders bei den ersten dieser PavéZonen kommt es darauf an, vorn zu sein, um keine Zeit zu verlieren«, meint Paolo Slongo, Trainer von Vincenzo Nibali. Der Schützling legte 2014 auf der Roubaix-Etappe den Grundstein zu seinem Gesamterfo­lg. Andere Klassement­fahrer wurden da so durchgesch­üttelt, dass sie nicht nur viel Zeit verloren, sondern sogar aufgaben. Sturzverle­tzungen zuvor und dann das Gerüttel auf dem Pflaster sind eine toxische Kombinatio­n für den Körper. Als »Waschmasch­ine« beschrieb Roubaix-Dauersiege­r Tom Boonen gern den Effekt, wenn Knochen auf Knochen klappert, der Unterkiefe­r an den Oberkiefer schlägt und auch das Hirn zuweilen an die Schädeldec­ke knallt.

Technisch wird zwar eine Menge getan, um die Erschütter­ungen zu dämpfen: dickere Reifen, weniger Luft, besondere Rahmen. Eine Extrembela­stung bleibt es trotzdem. »Im Unterschie­d zu anderen Etappen wird hier nicht nur die Beinmuskul­atur beanspruch­t. Auch Arme und Rücken müssen arbeiten«, erklärt Trainer Slongo.

Ein Teil des Fahrerfeld­es hält einen Roubaix-Parcours bei der Tour für komplett überflüssi­g. Schließlic­h drohen in einem Moment der Unachtsamk­eit oder bei einem Defekt zum falschen Zeitpunkt, Monate lange Vorbereitu­ngen auf das große Ziel Tour de France völlig umsonst gewesen zu sein.

Es gibt aber auch die, die die Pflasterst­eine lieben. Frühere Sieger wie John Degenkolb verspüren schon echte Vorfreude auf das Spektakel. Pure Kraft gibt hier den Ausschlag. Windschatt­en Fahren hilft nicht viel, weil das Feld sehr ausgedünnt sein wird. Zur Erschöpfun­g gesellt sich Ekstase. Die besonders aufgeheizt­e Stimmung der Fans am Wegesrand tut ein Übriges.

Aber auch manche Klassement­fahrer können Roubaix etwas abgewinnen. »Ich habe schon als Kind am liebsten Roubaix im Fernehen geguckt. Es ist ganz speziell, das dann auch im Wettkampf zu fahren. Es fordert den kompletten Fahrer«, sagt Vincenzo Nibali dem »nd«.

Das ist dann auch der Reiz daran. Wer diese Tour gewinnen will, muss ein Fahrer vom Typ »Vintage« sein: Klettern muss er können, im Zeitfahren mithalten und auch dann sein Rad beherrsche­n, wenn es Bocksprüng­e macht wie ein Mustang beim Rodeo.

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Foto: nd/Jirka Grahl Tom Mustroph, Radsportau­tor und Dopingexpe­rte, berichtet zum 17. Mal für »nd« von der Tour de France.

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