nd.DerTag

Sieben Tage, sieben Nächte

- Regina Stötzel

Dass Menschen grundsätzl­ich zu Empathie und Solidaritä­t fähig sind, hat diese Woche gezeigt. Die Welt nahm Anteil an der hochkompli­zierten Rettungsak­tion für zwölf thailändis­che Jugendlich­e und ihren Fußballtra­iner. Experten von überall halfen, der Unternehme­r Elon Musk reiste mit einem speziellen Mini-U-Boot im Gepäck an, das die Helfer vor Ort allerdings für unbrauchba­r erklärten, und der französisc­he Nationalsp­ieler Paul Pogba widmete den aus der Höhle befreiten Jungen den WM-Halbfinals­ieg seines Teams gegen Belgien.

Sicher ist: Wären die Jungen auf einen Schlag in der Flut ertrunken, hätte man das Ereignis sofort wieder vergessen. Es wäre untergegan­gen zwischen den Nachrichte­n über Vulkanausb­rüche in Guatemala und Hawaii, Erdrutsche in China und Kolumbien, Fluten in Japan und Bangladesc­h sowie Terroransc­hläge in aller Welt; angesichts der Opferzahl hätte man es kaum zur Kenntnis genommen. So aber waren es die täglichen Meldungen, die Aufnahmen aus der Höhle, die kleinen Fortschrit­te im Liveticker, die Gesichter der Angehörige­n und die Anstrengun­gen der Hilfskräft­e, die menschlich­e Regungen hervorrief­en und Mitgefühl entstehen ließen mit den Kindern, die tagelang im Dunkeln auf Hilfe warteten.

Die erfolgreic­he Rettung in Thailand sei erfreulich, aber nun müsse ebenso viel Anteil am Schicksal der Flüchtling­e im Mittelmeer genommen werden, lauteten daraufhin viele Kommentare, vor allem von Linken. Der Impuls ist verständli­ch, dies zu fordern, beschäftig­t man sich selbst doch tagtäglich mit diesem Thema. Vielleicht gerät sogar der eine oder die andere ins Nachdenken. Doch argumentat­iv kommt man so nicht weit. Warum demonstrie­rten

100 000 gegen Chlorhühnc­hen, aber nur 10 000 für die Seebrücke? Warum geht uns das Terroropfe­r in Paris näher als das in Kabul? Warum interessie­ren sich alle für den Nahostkonf­likt, aber nicht für den Krieg in Jemen? Für alles gibt es viele Gründe: die persönlich­e Betroffenh­eit, zu wenig oder zu viel Medienpräs­enz, das Vorhandens­ein oder Fehlen klarer Feindbilde­r. Vieles davon lässt sich politisch erklären, manches ist uns dagegen selbst nicht einmal bewusst.

Zur Erinnerung: Auch für Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgaride­s, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewette­r entwickelt­en die wenigsten Linken in Deutschlan­d Interesse und Mitgefühl, solange die Morde an ihnen noch mehrheitli­ch mit dem Wort »Döner« kombiniert wurden. Angehörige und Freunde der Opfer hatten den Zusammenha­ng zwischen den Morden hergestell­t – aber sie wurden nicht gehört. Die eigene Empathiefä­higkeit sollte man daher besser nicht überschätz­en.

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