Überall drängt es nach Veränderung
Die Kämpfe für die Gleichstellung von Frauen im Nahen Osten sind eine gesellschaftliche Herausforderung.
Es ist Ende Juni. Der Nachrichtensender Al Dschasira zeigt Bilder von verschleierten Frauen hinter dem Lenkrad eines Autos. Die Szene stammt aus Saudi-Arabien, wo gerade mit großem Tamtam das einzige Frauenfahrverbot abgeschafft wurde, das es jemals in einem unabhängigen Staat gab.
In der tunesischen Hauptstadt Tunis schaut Néziha Laabidi auf den Bildschirm. »Absurd, dass so etwas als Erfolg für die Menschenrechte verkauft wird«, sagt die Ministerin für Frauen, Familie, Kinder und Senioren. In Tunesien sei man schon viel weiter. Während in Saudi-Arabien Frauen zum ersten Mal keinen Mann mehr bitten müssen, sie von A nach B zu fahren, hat ihr Ministerium in einem gut 200 Seiten umfassenden Aktionsplan detailliert all die vielen großen und kleinen Schritte aufgeführt, die notwendig sind, um wirkliche Gleichstellung zu erreichen. »Wenn man einmal anfängt, sich damit in- tensiv zu beschäftigen, stellt man erst fest, wie weitreichend und umfassend die Ungleichbehandlung tatsächlich ist.«
Wenn im Westen über Frauenrechte in muslimisch geprägten Ländern gesprochen wird, dann kommt die Sprache schnell darauf, dass in Saudi-Arabien Frauen lange Zeit weder Auto noch Fahrrad fahren durften, dass in Iran, Saudi-Arabien und Kuwait das Tragen von Kopftüchern, teils auch eine Vollverschleierung, vorgeschrieben ist. Und dass es in vielen islamischen Ländern lange Zeit Gesetze gab und noch gibt, die einen Vergewaltiger straffrei stellen, wenn er sein Opfer heiratet.
Selbst in Ländern, die nach außen hin weltoffen wirken, wie Libanon, Jordanien oder Ägypten, gibt es eine Vielzahl von Einschränkungen. So sind Frauen in allen Ländern der Region im Familien- und oft auch im Arbeitsrecht benachteiligt – auch in Israel, wo die Gleichstellung offiziell so weit geht, dass Frauen in Kampfeinheiten dienen können. Doch in familienrechtlichen Fragen haben religiöse Gerichte das letzte Wort. Eine nach jüdischem Recht geschlossene Ehe kann somit nur durch den Mann aufgelöst werden.
Ob der tunesische Gleichstellungsplan jemals umgesetzt werden wird, das kann auch Laabidi nicht sagen: »Ich hoffe es, ich glaube es, aber ich weiß auch, wie die Realität aussieht.« Im Gleichstellungsplan stehen ausgesprochen kontroverse Dinge, wie die Forderung, jeder müsse das Recht haben, eine lebenslange Partnerschaft mit einem anderen Menschen einzugehen. Das Kabinett hat diesen Plan übrigens abgesegnet.
Doch auch wenn am Ende vielleicht nur ein Teil davon Realität werden wird: Der laute Ruf nach Veränderung und Gleichberechtigung ist von Iran bis nach Marokko zu hören. Die Bereitschaft steigt, auch große persönliche Risiken einzugehen. In Iran hingen Frauen Anfang des Jahres ihre Kopftücher an Laternenmasten. Vehement nutzen Frauen jede Gelegenheit, um das Verbot zu umgehen, sich ein Fußballspiel live im Stadion anzuschauen. In Libanon, Irak und Jordanien demonstrieren sie vor Polizeistationen, wenn die Polizisten Vergewaltigungsvorwürfen und Morden im familiären Umfeld nicht nachgehen: In Jordanien wurden 2017 mindestens 20 sogenannte Ehrenmorde gezählt. In Palästina waren es 2013 insgesamt 26. Es sind die einzigen Zahlen, die für die Region verfügbar sind.
Aber letzten Endes ist es vielerorts vor allem der wirtschaftliche Druck, der die von Männern dominierten Regierungen dazu bringt, den Dreck aus den Gesetzbüchern zu fegen: In Saudi-Arabien geben die Sprecher von Kronprinz Mohammad bin Salman offen zu, dass die restriktiven Gesetze zur Belastung wurden. Investoren haben bislang einen Bogen um das Königreich gemacht. Gut aus- gebildete saudische Frauen nehmen lieber einen Job im Ausland an. Im angrenzenden Katar traf die Wucht der Benachteiligung vor allem weibliche Arbeitskräfte aus dem Ausland. Erst in Folge der Debatte um die Austragung der Männerfußballweltmeisterschaft 2022 wird jetzt der Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ausgebaut.
Doch all dies sind nur erste Schritte, die teils auf enorme Gegenwehr stoßen. In Tunesien drohen Islamisten mit Anschlägen, sollte die Regierung ihren Aktionsplan umsetzen. In Saudi-Arabien griffen Extremisten Frauen an, die Pkw fuhren. »Das große Problem ist, dass in den Sicherheitsdiensten und in der Politik viele Männer zu finden sind, die mit dem alten Weltbild groß geworden sind, und deshalb nichts unternehmen, um Frauen zu schützen, die ihre Rechte wahrnehmen«, sagt Laabidi. »Die große Herausforderung wird sein, dies zu ändern.«
»Wenn man einmal anfängt, sich damit intensiv zu beschäftigen, stellt man erst fest, wie weitreichend und umfassend die Ungleichbehandlung tatsächlich ist.« Néziha Laabidi, Ministerin für Frauen, Familie, Kinder und Senioren in Tunesien