Zwölf Ermittler für ein ganzes Land
Die neuen irakischen Gesetze gegen häusliche Gewalt können ihren Zweck noch nicht erfüllen.
Knochenbrüche, Hämatome, Brandwunden, tief und groß. Die Fotos aus der dicken Akte, durch die Raed al Adly blättert, sind drastisch. Seine Stimme zittert, während er spricht: »Auch nach drei Jahren bin ich noch nicht abgehärtet, um solche Bilder einfach aus meinem Kopf zu verbannen«, sagt der 48-Jährige. Er stellt die Unterlagen zurück in den großen Aktenschrank an der Wand. Al Adly ist Polizist bei der Kriminalpolizei Bagdad.
In einem Land, in dem Gewalt, Entführungen und Bandenkriminalität an der Tagesordnung sind, hat er die Aufgabe, in einem zwölfköpfigen Team gegen häusliche Gewalt vorzugehen. Zwölf Leute für ein gesamtes Land, in dem viel über den Terror von Islamisten und bewaffneten Banden auf offener Straße gesprochen wird, gleichzeitig aber wenig Bewusstsein für den alltäglichen Terror herrscht, den vor allem Frauen zu Hause erleiden müssen.
Erst seit einigen Jahren wird in den islamisch geprägten Ländern der Region Gewalt in der Familie überhaupt thematisiert. Meist waren es Kampagnen von Frauenrechtsorganisationen und den Vereinten Nationen, die den Stein ins Rollen gebracht haben. Doch für al Adly gibt es auch eine andere Motivation. »Wir haben gehört, was vor einigen Jahren an Silvester in Köln passiert ist«, erzählt er. »Ich weiß nicht, ob die Täter Iraker waren, aber es hat auch dem letzten Politiker hier vor Augen ge- führt, dass es ein Problem gibt, das wir bekämpfen müssen.«
Doch es ist eine gigantische Aufgabe. Einer Studie der Weltgesundheitsorganisation zufolge haben 37 Prozent aller arabischen Frauen körperliche und/oder sexuelle Gewalt erlitten. Noch viel mehr sind Opfer psychischer Gewalt geworden.
Besonders weit verbreitet ist Gewalt gegen Frauen im Gazastreifen, in Saudi-Arabien und in jenen Gebieten, die bis vor Kurzem unter Kontrolle des »Islamischen Staates« standen. Dort haben laut WHO bis zu 70 Prozent der Frauen bereits Gewalt erlitten.
Doch ob in Irak, Palästina, Jordanien, Ägypten, Tunesien oder anderswo: Außer auf der arabischen Halb- insel gibt es mittlerweile überall Gewaltschutzparagrafen oder -verordnungen. Neu eingerichtete Polizeieinheiten sollen sie durchsetzen. »Nur scheitern solche Bemühungen daran, dass Leute wie wir nicht allmächtig sind«, sagt al Adly. Denn sehr oft wird die Polizei gar nicht erst informiert.
Jugendämter und Sozialarbeiter gibt es selten. In Tunesien, Jordanien und Ägypten existieren Telefonhotlines, deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aber meist am mangelnden Personal vor Ort scheitern. In Krankenhäusern wollen die Ärzte oft keinen Ärger. »Wenn da eine ganze Gruppe von männlichen Familienmitgliedern vor einem steht, dann überlegt man sich schon, ob man die Polizei informiert«, sagt ein Mitar- beiter des Roten Halbmondes, der zusammen mit nationalen Ärztevereinigungen an Konzepten arbeitet, Gewaltopfern Zufluchtsorte zu bieten.
Und wenn dann mal ein Täter verhaftet, gar vor Gericht gestellt wird, dann kommen der Frau oft auch familienrechtliche Regelungen in die Quere: In vielen Ländern steht sie im Fall einer Trennung wirtschaftlich vor dem Nichts. Sehr oft scheitern solche Strafverfahren aber auch an wenig verständnisvollen Richtern: »Unser Hauptproblem ist, dass diese archaischen Vorstellungen von Ehre, Familie und Rollenverteilung zwischen Mann und Frau in vielen tief verankert sind«, sagt al Adly. »Auch Richter, Politiker und viele meiner Kollegen kommen aus dieser Tradition.«