Morgen wird alles besser
Warum Zukunftsoptimismus der kleine Bruder vom Kapitalismus ist.
Wie heute noch provozieren, wo doch der Kapitalismus dankbar jeden widerständigen Akt in sich aufnimmt, um sich selbst zu erneuern? Vielleicht so wie Serge Gainsbourg 1984 live in einer Fernsehshow: mit totaler Negation. Im Ärger auf die französischen Einkommenssteuern zückte der Sänger plötzlich einen 500-Franc-Schein und verbrannte diesen vor den Augen eines Millionenpublikums. Ein Skandal. Tausende Zuschauer schrieben empörte Protestbriefe. Oder, noch radikaler, wie fünf Jahre später in einem Film von Michael Haneke. »Der siebente Kontinent« zeigt den Alltag einer bürgerlichen Familie: Fleißig erarbeitet man sich Stück für Stück mehr Wohlstand, bis es plötzlich zu einer Kehrtwende kommt. Vater, Mutter und Tochter beschließen, sich gemeinsam das Leben zu nehmen, zuvor aber zertrümmern sie das gesamte Inventar ihrer Wohnung, heben ihre Ersparnisse von der Bank ab und spülen die Geldscheine Bündelweise die Toilette hinunter. Süffisant merkte Haneke einmal an, dass es nicht der kollektive Suizid, sondern die Geldvernichtungsszene war, die das Publikum aufschreien und mitunter sogar Türen schlagend den Saal verlassen ließ.
Warummacht die Vernichtung von Geld viele Menschen derart wütend? Der Soziologe Jens Beckert hat in seinem Buch »Imaginierte Zukunft« darauf eine Antwort: Gainsbourg habe »eine symbolische Repräsentation der sozialen Ordnung« attackiert. »Das farbig bedruckte Stück Papier war eine Requisite, die diese Ordnung darstellte, und der Angriff auf diese Requisite wurde als Angriff auf die gesellschaftliche Autorität (den Staat) gedeutet und folglich entschieden verurteilt.« Hanekes Filmfamilie negiert dieseOrdnung ebenfalls, auf den Tod des Geldes kann nur noch der eigene Tod folgen.
Schon Georg Simmel hatte in seiner »Philosophie des Geldes« gezeigt, dass aus dem Sicherheitsgefühl, das der Geldbesitz vermittelt, ein tiefes Vertrauen in die staatlich-gesellschaftliche Ordnung spricht. Denn schließlich nur wenn Staat und Gesellschaft stabil bleiben, ist ein 500Franc-Schein auch etwas wert. Durch eine Krisenstimmung etwa könnten Sparer auf die Idee kommen, ihr Geld bei der Bank abzuheben und dadurch einen sogenannten Bank Run, einen Schaltersturm, verursachen. Schnell wären die Banken zahlungsunfähig, da sie einen Großteil des Geldes weder vor Ort haben noch wirklich besitzen. Das wäre in Deutschland 2008 beinahe geschehen, wären Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie der Kabarettist und damalige Finanzminister Peer Steinbrück nicht vor die Fernsehkameras getreten, um ein Versprechen abzugeben, das sie gar nicht hätten halten können: Die Spareinlagen sind sicher.
Zwar hat sich dies im Nachhinein als wahr erwiesen, allerdings nur, weil genug Bürger daran geglaubt und deshalb ihre Sparbücher unangetastet gelassen haben. Der moderne Kapitalismus beruht auf einem festen Glauben an die Zukunft, auf der Hoffnung, dass Versprechungen künftig eingelöst werden, und auf der Sehnsucht nach spannenden und plausiblen Geschichten von dem, was da kommen wird. Das gilt für das Geld wie für alle Kredit- und Börsengeschäfte. Jahrzehntelang hat sich die Soziologie mit der Vergangenheit beschäftigt, um die Gegenwart zu erklären, und hat dabei glatt die Zukunft vergessen, deren Analyse je- doch ebenso wichtig ist, wie Beckert in seinem Buch wortreich erläutert. »Imaginierte Zukunft« soll ein Essay sein, arbeitet sich vor allem aber an einem Jahrhundert soziologischer Forschung ab, um immer wieder – nach dem Motto: viele Worte, kaum ein Sinn – zu resümieren: Die Analyse von Zukunftsnarrativen ist entscheidend, um die Dynamik des Kapitalismus zu verstehen. Stimmt! Nur Beckerts Buch braucht man für diese Erkenntnis kaum, es genügt, den Wirtschaftsteil einer Zeitung aufzuschlagen oder sich Science-FictionFilme anzuschauen.
Tagtäglich begegnen einem dort Zukunftsvisionen mit Künstlichen Intelligenzen, Supercomputern oder Weltallmissionen. Mehr noch: 2016 veröffentlichte der amerikanische Sender »National Geographic« die Serie »Mars«, die in Deutschland auf Netflix zu sehen ist. Darin begibt sich im Jahr 2033 eine Raumschiffcrew auf den Weg zum Mars, um das lange gehegte Projekt der Kolonisierung des Roten Planeten zu initiieren. Purer Science-Fiction-Stoff, möchte man sagen, wäre die Serie nicht ein Dokudrama und würden die Spielszenen nicht immer wieder durch Kommentare von Raumfahrtexperten und von SpaceX-Chef Elon Musk unterbrochen werden, die allesamt mit leuchtenden Augen bekunden, wie real die gezeigte Utopie bereits ist.
Eine bessere Werbung könnte es für Musks Raumfahrtunternehmen gar nicht geben: Was noch Fiktion ist, verspricht der CEO, wird er bald realisieren. Musk ist, auch wenn diese Berufsbezeichnung im BWL-Studium wohl eher selten vorkommt, in erster Linie ein Geschichtenerzähler. Und kein schlechter, denn schwerreiche Aktionäre lieben seine Storys, ja, sie glauben daran, dass sie eines Tages wahr werden – mag Musk mit SpaceX und Tesla auch gerade noch so empfindliche Niederlagen erleben. Noch immer verfügt Musk über zwei Narrative, die die Geldbeutel der Aktionäre öffnen: Dem ersten zufolge wer- den bald alle mit Musks luxuriösen Elektroautos fahren, dies ist aber im Prinzip nur ein Zwischenschritt, quasi für Halbtagsvisionäre. Das zweite Narrativ verspricht eine Zukunft im All: Musk will den Mars besiedeln und dort eine bessere Zukunft errichten – wohl auch für den Fall, dass die Umstellung auf E-Autos doch nicht so rasch kommt und die Erde von Diesel-Fahrern, die bekanntlich die alleinige Schuld am Klimawandel tragen, unwiederbringlich zerstört wird.
Auch ein Film wie »Der Marsianer« betreibt unfreiwillig Werbung für Musk, wird darin doch mit wissenschaftlicher Akribie gezeigt, wie Matt Damon den als unwirtlich geltenden Boden auf dem roten Planeten nutzbar macht. Damit Zukunftsnarrative überhaupt Gehör finden, müssen sie massenmedial verbreitet werden – über das Kino oder mit Hilfe von aufregenden Unternehmerstorys. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht eine Zeitschrift mit Musks Konterfei aufmacht. Beckert, ohne auf Musk einzugehen, erklärt, dass die ersten Finanzblasen mit dem Aufkommen der ersten Zeitungen im 17. Jahrhundert entstanden sind: »Seither beeinflussen die Massenmedien die Finanzmärkte, indem sie spekulative Kursbewegungen verstärken.« Vor allem die Finanzialisierung des Kapitalismus, also die wachsende Macht der Finanzmärkte gegenüber der Realwirtschaft, verstärkte diese Entwicklung ungemein. Manchmal genügt auch nur ein Schlüsselwort, um Aktienkurse nach oben schnellen zu lassen. So änderten während des Bitcoin-Hypes manche Pennystocks ihren Namen in irgendetwas mit »Coin« oder »Blockchain«, um leichtgläubige Anleger anzulocken.
Solche Erfolge sind allerdings nur von kurzer Dauer; um langfristig Investitionen in die Zukunft tätigen zu können und dafür Geld von Anlegern zu erhalten, ist Vertrauen unabdingbar. Das könnte auch Musk bald merken. Seine Zukunftserzählungen werden immer skeptischer aufgenommen, darauf reagiert Musk zunehmend genervt, was ihn wiederum mit seinen Silicon-Valley-Kollegen verbindet. Skepsis, Kritik, Bedenken – all das stellen die Science-Fiction-CEOs grundsätzlich unter den Generalverdacht »Kulturpessimismus«. Und der ist, wie ein brennender Geldschein, tödlich für die kapitalistische Ordnung. Nur Zukunftsoptimismus verspricht neues Geld.
Jens Beckert: Imaginierte Zukunft. Fiktionale Erwartungen und die Dynamik des Kapitalismus. Suhrkamp, 567 Seiten, 42 Euro.