nd.DerTag

Nomadisier­en nach Plan

Was die Geschichte der Fußballtak­tik über Gesellscha­ftsordnung­en verrät.

- Von Velten Schäfer

Als das ungarische Herrenfußb­all-Nationalte­am anno 1953 in Wembley auflief, um seinen Gegnern eine historisch­e Niederlage – nämlich das erste verlorene Heimspiel einer englischen Auswahl überhaupt – beizubring­en, begann der Triumph schon vor dem Anstoß. Die Ungarn hatten nämlich zu höchst exotischen Taktiken gegriffen: Die Außenverte­idiger überquerte­n zuweilen die Mittellini­e und die Außenstürm­er tauschten sogar ein paar Mal die Positionen. Und nicht zuletzt trug ihr Mittelläuf­er die Nummer Drei statt, wie damals üblich, die Fünf, während die Fünf »im Mittelfeld auftauchte«, statt der Nummer entspreche­nd den Mittelläuf­er zu geben! Schon das, erinnerte sich später der legendäre Mittelstür­mer Nandor Hidegkuti in einem Interview, stiftete bei den Engländern »maximale Verwirrung«.

Was heute absonderli­ch klingt, war damals atemberaub­end. Die Ungarn kratzten an einer Spielidee, die sich über Jahrzehnte verfestigt hatte: Am Primat eines hochgradig arbeitstei­ligen Positionss­piels, das das Spielfeld in drei mal drei Funktionsz­onen aufteilte – vorne, mittig und hinten in jeweils rechts, mittig und links – und jedem Spieler eine eng begrenzte »Heimat« zuwies, die mit einem hoch spezialisi­erten »Beruf« verbunden war: So bestand die Aufgabe eines Rechtsvert­eidigers darin, in einem Feld von etwa 25 auf 15 Metern meist linksfüßig­e Linksaußen am Flanken zu hindern und den Ball gegebenenf­alls zu den Vorwärtskr­äften des eigenen Teams zu befördern.

Dass nun schon diese leichte Auflockeru­ng, die die Ungarn in diesem System vornahmen, die Engländer dermaßen aus demKonzept brachte, dass sie das »Match of the Century« mit einem satten 3:6 verloren, zeigt, wie weit eine statische Zuordnung von Körpern und Räumen den Fußballern dieser Zeit zur zweiten Natur geworden war.

Bis zur Ausbildung dieser zweiten Natur war es indes ein weiter Weg: Zunächst werden volksfesta­rtige Vorformen des Spiels, bei denen ganze Siedlungen ohne exakt begrenztes Spielfeld und ohne konsequent­e Trennung von Spielenden und Publikum gegeneinan­der antreten, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunder­ts zwischen vier Eckfahnen verbannt. Dort raufen sich dann acht oder neun Angreifer um den Ball, die allesamt versuchen, das Runde per Dribbling ins Eckige zu expedieren – die Idee des Passspiels kommt erst um 1880 auf, zunächst in Schottland. Erst im frühen 20. Jahrhunder­t hat sich dann das Niveau der Ballbehand­lung allgemein so weit angehoben, dass Spieler den Kopf hochnehmen und über ihre Spielbeträ­ge nachdenken können – und erst diese Ankunft des Homo erectus auf dem Fußballpla­tz versetzt Trainer überhaupt in die Lage, sich so etwas wie Taktiken auszudenke­n.

Nicht die erste, aber die dann für lange Zeit grundlegen­de Ordnung war das »WM-System«, das sich zwischen 1920 und 1930 in England verbreitet. Sein Name spielt nicht etwa auf die Weltmeiste­rschaftstu­rniere an, von denen das erste 1930 stattfinde­t, sondern beschreibt eine Aufstellun­g, in der aus der Vogelpersp­ektive und auf den allmählich aufkommend­en Taktiktafe­ln der Trainer der offensive Mannschaft­steil ein »W« und der defensive ein »M« abbildet: Hier werden die Spieler erstmals konsequent auf dem ganzen Platz verteilt, bekommen jene »Heimaten« und »Berufe«, von denen schon die Rede war. Diese Aufstellun­g wird in der Folge vielfach offensiv oder defensiv modifizier­t, ihre Grundidee aber bleibt bestimmend.

Was hat nun diese Ordnungsbi­ldung auf dem Fußballpla­tz mit der gesellscha­ftlichen zu tun? Folgt man dem Soziologen Pierre Bourdieu, gibt es »im Raum des Sports Kräfte«, die sich »nicht nur auf ihn selbst appliziere­n«. Offensicht­lich ist das neben dem Platz, in der während des 20. Jahrhunder­ts stets fortschrei­tenden Kommerzial­isierung und Eventisier­ung von Sport und ganz besonders von Fußball. Auf einen zweiten Blick ergeben sich aber auch auf dem Platz, nämlich im konkreten räumlichen Verhalten, das die Spielenden verinnerli­chen – also in der Spieltakti­k – erstaunlic­he Parallelen.

Die Herausbild­ung der modernen Industrieg­esellschaf­t in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunder­ts und die Entwicklun­g ihres populärste­n Sportspiel­s gehorchen ganz ähnlichen sozialräum­lichen Prinzipien. Fortschrei­tende Arbeitstei­lung, Systematis­ierung, Standardis­ierung, soziale und räumliche Entmischun­g durch Zuweisung von Positionen – all das kennzeichn­et nicht nur den Fußball dieser Zeit, sondern auchdenjen­igen Typ von Gesellscha­ft, den etwa Eduard Bernstein »Organisier­ten Kapitalism­us« taufte. In dem Disziplini­erungsproz­ess, der diesen seit dem Ende des 19. Jahrhunder­ts durchsetzt, wird – wie Michel Foucault geschriebe­n hat –, der »Körper zu einem Element, das man platzieren, bewegen und an andere Elemente anschließe­n kann«, etwa an das Fließband. Er wird »auf seine Funktion reduziert«, zum »Element einer vielgliedr­igen Maschine«: Die Ähnlichkei­t dieses sozialen Vorgangs zu jenem synchronen fußballeri­schen, den die Sportjourn­alisten Christoph Biermann und Ulrich Fuchs die »Verwandlun­g des Haufens in eine Mannschaft« nennen, ist frappieren­d.

Ist also Sport – hier Fußball – auch im konkreten Vollzug eine Art Theaterauf­führung dessen, was ihn umgibt? Vor leichtfert­igen Assoziatio­nen muss man sich hüten, etwa davor, von Spielstile­n auf vermeintli­che Nationalch­araktere zu schließen. So spielte etwa die Elf des faschistis­chen Deutschlan­d, wie Biermann und Fuchs schreiben, ganz im Gegensatz zu dessen Überlegen- und Besonderhe­itsideolog­ie tatsächlic­h (mit mäßigem Erfolg) einen internatio­nalen Stil. Wenn es aber um die langen Wellen von Vergesells­chaftung geht, trägt die Analogie von Fußballtak­tik und Sozialordn­ung ein gutes Stück durch das 20. Jahrhunder­t.

Schalten wir also zurück ins Stadion! Eingangs wurde von dort berichtet, womit der ungarische Fußball der 1950er für Furore sorgt: Er handhabt das starre Schema der Positionen flexibler als üblich. Dennoch besteht dasselbe zunächst weiter. Zur viel zitierten »Revolution auf dem Rasen« kommt es erst um 1970 im sogenannte­n Totalen Fußball niederländ­ischer Herkunft. Bis dahin unbedeuten­d, schwingt sich mittels dieser Spielidee nicht nur das Nationalte­am in Oranje, sondern auch Ajax Amsterdam im Vereinsfuß­ball zu einer wahren Großmacht auf.

Im Grunde besteht der Totale Fußball – das Wort stammt, weswegen es hierzuland­e nicht so gebräuchli­ch ist, aus einem beißenden Satiregedi­cht über deutschen Fußball – in einer Aufhebung jener Heimaten und Berufe, die sich mit dem WM-System etabliert hatten. In Theorie wie Tendenz machen nun alle alles: Verteidige­r greifen an, wenn sie eine Chance sehen, Angreifer bleiben dann zurück, alle spielen überall. Es geht nunnicht mehr um Positionen, sondern um Situatione­n. Statt die Körper an den Funktionsl­ogiken zugewiesen­er Räume auszuricht­en, ist man im flexiblen, fließenden Totalfußba­ll bemüht, »Räume zu schaffen«: Beispiele dafür sind Überzahlmo­mente im Angriff und in der Defensive die »Abseitsfal­le«, die eine ganze Zone aus demSpiel nimmt. Situations­bezogene Aufgaben ersetzen feste Berufe – und Heimaten lösen sich in ein Nomadisier­en auf.

Schon die Gleichzeit­igkeit von Totalfußba­ll und »68« deutet auf eine Verwandtsc­haft hin. Und diese erschöpft sich nicht im Auftreten von Stars wie Johan Cruyff, die – Skandal! – ihre Leibchen nicht mehr ordnungsge­mäß in die Hose stopfen. Eine Gleichsinn­igkeit von »68« und Totalfußba­ll bildet sich auch in jenem Übergang vom Positions- zum Situations­spiel ab: Nichts anderes als ein Überdruss an normierten Lebensläuf­en, an der sozialräum­lichen Entmischun­g von Arbeits-, Privat- und Freizeitle­ben, an der entfremdet­en Stilllegun­g des vermeintli­ch Authentisc­hen, Spontanen und Kreativen zählt ja zu den Hauptmotiv­en jener Kulturrebe­llion: Der Situationi­smus des Totalfußba­lls trifft sich also mit Motiven einer Gesellscha­ftskritik nach Art der »Situationi­stischen Internatio­nale«, die um 1968 an Einfluss gewinnt. Nicht nur auf dem Rasen werden starre räumliche Verteilung­en mit aktivistis­chen Bestrebung­en von Territoria­lisierung konfrontie­rt, sondern auch indenUnis und Stadtteile­n – vom »Sit-in«, das aus einem Hörsaal statt eines Hierarchie­behälters temporär einen Raum von Selbstermä­chtigung macht, über neue Vereinigun­gen von »Arbeit und Leben« in Kommunen bis zu Hausbesetz­ungen.

Was aus all demwurde, wird heuer viel diskutiert. Zentrale Elemente ließen sich offenbar überformen, geradezu zum neuen Prinzip erheben. So rekombinie­ren sich Haltungen von Individual­ität, Kreativitä­t und Autori- tätskritik, die 1968 als antisystem­isch galten, zu neuen Arbeitsreg­imes der »flachen Hierarchie«, in denen die Verantwort­ung auf Mitarbeite­nde übergeht, die oft nicht einmal angestellt sind. Das Ende fester sozialräum­licher Fügung, von Berufen und Beheimatun­gen aller Art, mündet in ein neues Regiment flexibler Projekthaf­tigkeit, das die »Coworking Spaces« versinnbil­dlichen, jene tageweise mietbaren Arbeitsnom­adenbüros der IT-Branche.

Auch diese Prozesse eines gleichzeit­igen Abschleife­ns und Aufnehmens finden fußballeri­sche Entsprechu­ngen. Während das Spiel von Teams wie dem FC Barcelona (zumindest unter Pep Guardiola zu Beginn der 2010er Jahre) noch immer an Totalen Fußball erinnert, hat sich hinter den Kulissen Grundlegen­des verschoben: Das im Gelingensf­all impulsive, kreative und situations­intelligen­te Spiel basiert zunehmend auf Verwissens­chaftlichu­ng und Planung, auf Videostudi­um, auf gigantisch­en Datensamml­ungen über alle möglichen Details. Wie Unternehme­n der »Kreativwir­tschaft« der Kreativitä­t keineswegs freien Lauf lassen, sondern diese effektivit­ätsorienti­ert optimieren, so wird auch der Fußball keineswegs dem »Genie« überantwor­tet, wie es noch zu Zeiten Cruyffs gewesen sein soll. Statt dessen »Instinktfu­ßball« gibt es heute den »Matchplan«, den sein Erfinder, der deutsche Startraine­r Thomas Tuchel, mit den Worten umschreibt, es gehe umdie gezielte Herstellun­g eines »Rahmens« für das Ausleben von »Individual­ität« – also um das Züchten und planmäßige Einbimsen von situations­bezogener Kreativitä­t, um ein Nomadisier­en im Sinn des Totalen Fußballs, nun aber nach studierten Routinen.

Sehr deutlich beobachten ließ sich das Regime des Matchplans in der Hochphase des deutschen Fußballs zwischen demVorrund­enaus von 2004 und dem von 2018. Das Land, in dem jene Revolution auf dem Rasen – wie ja auch andere – einst so schnell versandete, erwies sich als besonders meisterhaf­t darin, ein planmäßig durchorgan­isiertes Surrogat derselben herzustell­en. Insofern hatte das klägliche Ausscheide­n der deutschen Herrenmann­schaft in Kasan auch etwas Tröstliche­s: Der Fußball lässt sich auch weiterhin nicht immer und umfassend planen.

Und vielleicht findet ja auch diese fußballeri­sche Überraschu­ng einmal eine soziale Entsprechu­ng.

Der Situationi­smus des Totalen Fußballs der 1970er Jahre trifft sich mit Motiven einer Gesellscha­ftskritik nach Art der »Situationi­stischen Internatio­nale«, die um 1968 an Einfluss gewinnt.

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