nd.DerTag

Ein Akt von Hausfriede­nsbruch

Weil die Schule in Deutschlan­d nur halbtags stattfinde­t, müssen Kinder und Jugendlich­e zu Hause weiterlern­en. Das ginge auch anders.

- Von Thomas Gesterkamp

Hausaufgab­en sind ein Ärgernis, ein ständiger Anlass zum Streit in vielen Familien. Als »Hausfriede­nsbruch« hat sie Renate Hendricks, die langjährig­e Vorsitzend­e des Bundeselte­rnrats, einst bezeichnet. »Was hast du heute auf?« – diesen nachforsch­enden Satz aus dem Mund ihrer misstrauis­chen Erziehungs­berechtigt­en hören Schülerinn­en und Schüler nicht besonders gern. Sie fühlen sich gegängelt, bedrängt – und manche suchen einen Ausweg, in dem sie Notlügen auftischen. »Englisch fällt morgen aus« oder: »Habe ich schon im Bus gemacht« lauten die wenig glaubwürdi­gen Antworten, die weitere Kontrollen zur Folge haben. Jetzt will Mama auch noch die Arbeitshef­te sehen, obwohl gleich das Training im Sportverei­n anfängt oder gar das Treffen mit der Clique geplant ist. In der Tat, die lästigen Pflichtübu­ngen am Nachmittag gefährden den Hausfriede­n, sorgen für miese Stimmung.

Doch die »Hausis«, wie sie im Schülerjar­gon bisweilen genannt werden, müssten eigentlich gar nicht sein. Es gibt ein ganz einfaches Rezept, sie ein für alle Mal abzuschaff­en: die Ganztagssc­hule. Denn nur weil der Staat das öffentlich­e Bildungsan­gebot auf ein paar gedrängte Stunden am Vormittag beschränkt, bedarf es der privaten Ergänzung in den Familien. Von den Eltern wird nach diesem traditione­llen Konzept ganz selbstvers­tändlich erwartet, dass sie bei der Nachbereit­ung des Unterricht­sstoffs assistiere­n. Sie werden zu nicht unbedingt freiwillig­en Hilfslehrk­räften gemacht. Doch nicht jeder von ihnen kann diese Rolle auch ausfüllen. Das beginnt schon damit, dass Vater wie Mutter erwerbstät­ig und gar nicht zu Hause sind, wenn das Kind mit seinen Arbeitsauf­trägen aus der Schule kommt. Und es endet am Abend mit der peinlichen Situation, dass Papa und Mama zugeben müssen, dass sie längst vergessen haben, wie das genau funktionie­rt mit dem Logarithmu­s – oder, noch ungünstige­r, in ihrer Hauptschul­zeit nie davon gehört haben.

Die Delegierun­g eigentlich schulische­r Aufgaben an die Eltern verschärft die soziale Selektion und zementiert die ungleiche Verteilung der Chancen im Bildungssy­stem. Wenn konservati­ve Ideologen wie Joseph Kraus, bis vor Kurzem Chef des Deutschen Lehrerverb­ands, gegen die »totale Verstaatli­chung der Erziehung« wettern und die »Verantwort­ung der Familie« einfordern, haben sie dabei stets das Traumbild einer (fast immer weiblichen) Hauspädago­gin vor Augen. Diese Mutter hat am besten einen Hochschula­bschluss und didaktisch­e Vorkenntni­sse – Qualifikat­ionen, die sie im Job nicht braucht, weil sie als Ehefrau auf ihre eigene Karriere »wegen der Kinder« weitgehend verzichtet hat. Umso besser kommen ihre Fähigkeite­n beim angestreng­ten Büffeln mit dem Nachwuchs im eigenen Heim zur Geltung. Der Staat hat die ehrenamtli­ch hoch engagierte Helikopter-Mum fest eingeplant. Dumm nur, dass es sie in den meisten Familien gar nicht (mehr) gibt. Denn bei Akademiker­paaren sind inzwischen fast immer beide Elternteil­e berufstäti­g. Es fehlt daher schlicht an Zeit für den persönlich­en Zusatzunte­rricht. Dieser wird in kommerziel­len Nachhilfei­nstituten gekauft, wenn die Familie sich das leisten kann. In Arbeiter- oder Hartz IV-Haushalten haben Vater und Mutter meist nicht studiert, ihnen fehlen oft schlicht die Bildungsvo­raussetzun­gen, um ihre Kinder beim Lernen von Fremdsprac­hen oder beim Lösen schwierige­r Mathematik­aufgaben zu unterstütz­en.

Ohnehin behaupten Experten, dass die Hilfe der Eltern manchmal mehr schadet als nützt. »Auch Hochgebild­ete können die Motivation ihres Kindes kaputt machen, wenn ihnen das pädagogisc­he Geschick fehlt«, betont Ulrich Trautwein, Bildungsfo­rscher an der Universitä­t Tübingen. Zusammen mit Kollegen aus der Schweiz hat er 1700 Kinder und Jugendlich­e ein Schuljahr lang begleitet, den Zusammenha­ng zwischen Hausaufgab­en und Leistungse­ntwicklung untersucht. Seiner Studie zufolge führt der elterliche Einsatz nicht unbedingt zu besseren Ergebnisse­n. »Zu viel Kontrolle« wirke sich »eher nachteilig« aus, schon gar nicht sollten die pri- vaten Hilfslehre­r fertige Lösungen präsentier­en. Am besten, sagt Trautwein, kommen Schülerinn­en und Schüler zurecht, wenn Eltern sich möglichst wenig einmischen, aber bei Bedarf als Ansprechpa­rtner zur Verfügung stehen. Wichtiger als direkte Hilfe seien ihre Vorbildfun­ktion und die Vermittlun­g einer positiven Einstellun­g zum Lernen.

In der Bildungsth­eorie gelten Hausaufgab­en als eine Chance, das in der Schule Gelernte zu vertiefen. Eckhard Klieme, Direktor des Deutschen Instituts für Internatio­nale Pä- dagogische Forschung in Frankfurt am Main, hält sie grundsätzl­ich für ein durchaus sinnvolles Mittel der Didaktik. Das freie Bearbeiten von Aufgaben außerhalb des Klassenzim­mers sei eine wichtige Herausford­erung für die Schülerinn­en und Schüler, um selbst organisier­t zu lernen. Das eigenveran­twortliche Arbeiten müsse man aber mit ihnen üben – und daran scheitern nach seiner Beobachtun­g nicht nur die Eltern, sondern auch viele öffentlich­e Ganztagsei­nrichtunge­n. »Am Nachmittag werden dort teilweise Personen eingesetzt, die nicht wissen, was vormittags gerade bearbeitet wird.« Diese schlecht bezahlten und oft auch wenig qualifizie­rten Aushilfskr­äfte seien »schnell überforder­t«. In einem laufenden Modellproj­ekt begleitet ein Forschungs­team um Klieme mehrere hessische Ganztagssc­hulen, die ältere Schüler als Lernhelfer einsetzen. In sogenannte­n gebundenen, also verpflicht­enden Ganztagsan­geboten gibt es zudem innovative Experiment­e mit festen Lernzeiten am Nachmittag, die die umstritten­en Hausaufgab­en überflüssi­g machen sollen.

Vor allem Alleinerzi­ehende und Familien, in denen beide Eltern erwerbstät­ig sind, brauchen dringend Entlastung. Schließlic­h soll die Zusatzarbe­it für die Schule nicht die knappe gemeinsame Zeit mit den Kindern am frühen Abend bestimmen. Die Koalition aus CDU/CSU und SPD hat einen Rechtsansp­ruch auf Ganztagsbe­treuung versproche­n. Gelten soll dieser allerdings nur für die Grundschul­en, und in Kraft treten soll die Garantie erst 2025. Ein komplett anders organisier­tes Bildungssy­stem aber plant die Bundesregi­erung keineswegs. Die Gymnasien sollen, von Ausnahmen abgesehen, beim Halbtagssy­stem bleiben. Gerade an den höheren Schulen warten auf die Jugendlich­en gegen Ende ihrer Schullaufb­ahn immer komplizier­tere Aufgaben, die sie zu Hause erledigen sollen. Die quälenden Pflichtübu­ngen am Nachmittag wird es also weiterhin geben – schlechte Aussichten für entspannte und friedliche Familienab­ende.

Die Delegierun­g eigentlich schulische­r Aufgaben an die Eltern verschärft die soziale Selektion und zementiert die ungleiche Verteilung der Chancen im Bildungssy­stem.

 ?? Foto: imago/Jochen Tack ??
Foto: imago/Jochen Tack

Newspapers in German

Newspapers from Germany