Ein Akt von Hausfriedensbruch
Weil die Schule in Deutschland nur halbtags stattfindet, müssen Kinder und Jugendliche zu Hause weiterlernen. Das ginge auch anders.
Hausaufgaben sind ein Ärgernis, ein ständiger Anlass zum Streit in vielen Familien. Als »Hausfriedensbruch« hat sie Renate Hendricks, die langjährige Vorsitzende des Bundeselternrats, einst bezeichnet. »Was hast du heute auf?« – diesen nachforschenden Satz aus dem Mund ihrer misstrauischen Erziehungsberechtigten hören Schülerinnen und Schüler nicht besonders gern. Sie fühlen sich gegängelt, bedrängt – und manche suchen einen Ausweg, in dem sie Notlügen auftischen. »Englisch fällt morgen aus« oder: »Habe ich schon im Bus gemacht« lauten die wenig glaubwürdigen Antworten, die weitere Kontrollen zur Folge haben. Jetzt will Mama auch noch die Arbeitshefte sehen, obwohl gleich das Training im Sportverein anfängt oder gar das Treffen mit der Clique geplant ist. In der Tat, die lästigen Pflichtübungen am Nachmittag gefährden den Hausfrieden, sorgen für miese Stimmung.
Doch die »Hausis«, wie sie im Schülerjargon bisweilen genannt werden, müssten eigentlich gar nicht sein. Es gibt ein ganz einfaches Rezept, sie ein für alle Mal abzuschaffen: die Ganztagsschule. Denn nur weil der Staat das öffentliche Bildungsangebot auf ein paar gedrängte Stunden am Vormittag beschränkt, bedarf es der privaten Ergänzung in den Familien. Von den Eltern wird nach diesem traditionellen Konzept ganz selbstverständlich erwartet, dass sie bei der Nachbereitung des Unterrichtsstoffs assistieren. Sie werden zu nicht unbedingt freiwilligen Hilfslehrkräften gemacht. Doch nicht jeder von ihnen kann diese Rolle auch ausfüllen. Das beginnt schon damit, dass Vater wie Mutter erwerbstätig und gar nicht zu Hause sind, wenn das Kind mit seinen Arbeitsaufträgen aus der Schule kommt. Und es endet am Abend mit der peinlichen Situation, dass Papa und Mama zugeben müssen, dass sie längst vergessen haben, wie das genau funktioniert mit dem Logarithmus – oder, noch ungünstiger, in ihrer Hauptschulzeit nie davon gehört haben.
Die Delegierung eigentlich schulischer Aufgaben an die Eltern verschärft die soziale Selektion und zementiert die ungleiche Verteilung der Chancen im Bildungssystem. Wenn konservative Ideologen wie Joseph Kraus, bis vor Kurzem Chef des Deutschen Lehrerverbands, gegen die »totale Verstaatlichung der Erziehung« wettern und die »Verantwortung der Familie« einfordern, haben sie dabei stets das Traumbild einer (fast immer weiblichen) Hauspädagogin vor Augen. Diese Mutter hat am besten einen Hochschulabschluss und didaktische Vorkenntnisse – Qualifikationen, die sie im Job nicht braucht, weil sie als Ehefrau auf ihre eigene Karriere »wegen der Kinder« weitgehend verzichtet hat. Umso besser kommen ihre Fähigkeiten beim angestrengten Büffeln mit dem Nachwuchs im eigenen Heim zur Geltung. Der Staat hat die ehrenamtlich hoch engagierte Helikopter-Mum fest eingeplant. Dumm nur, dass es sie in den meisten Familien gar nicht (mehr) gibt. Denn bei Akademikerpaaren sind inzwischen fast immer beide Elternteile berufstätig. Es fehlt daher schlicht an Zeit für den persönlichen Zusatzunterricht. Dieser wird in kommerziellen Nachhilfeinstituten gekauft, wenn die Familie sich das leisten kann. In Arbeiter- oder Hartz IV-Haushalten haben Vater und Mutter meist nicht studiert, ihnen fehlen oft schlicht die Bildungsvoraussetzungen, um ihre Kinder beim Lernen von Fremdsprachen oder beim Lösen schwieriger Mathematikaufgaben zu unterstützen.
Ohnehin behaupten Experten, dass die Hilfe der Eltern manchmal mehr schadet als nützt. »Auch Hochgebildete können die Motivation ihres Kindes kaputt machen, wenn ihnen das pädagogische Geschick fehlt«, betont Ulrich Trautwein, Bildungsforscher an der Universität Tübingen. Zusammen mit Kollegen aus der Schweiz hat er 1700 Kinder und Jugendliche ein Schuljahr lang begleitet, den Zusammenhang zwischen Hausaufgaben und Leistungsentwicklung untersucht. Seiner Studie zufolge führt der elterliche Einsatz nicht unbedingt zu besseren Ergebnissen. »Zu viel Kontrolle« wirke sich »eher nachteilig« aus, schon gar nicht sollten die pri- vaten Hilfslehrer fertige Lösungen präsentieren. Am besten, sagt Trautwein, kommen Schülerinnen und Schüler zurecht, wenn Eltern sich möglichst wenig einmischen, aber bei Bedarf als Ansprechpartner zur Verfügung stehen. Wichtiger als direkte Hilfe seien ihre Vorbildfunktion und die Vermittlung einer positiven Einstellung zum Lernen.
In der Bildungstheorie gelten Hausaufgaben als eine Chance, das in der Schule Gelernte zu vertiefen. Eckhard Klieme, Direktor des Deutschen Instituts für Internationale Pä- dagogische Forschung in Frankfurt am Main, hält sie grundsätzlich für ein durchaus sinnvolles Mittel der Didaktik. Das freie Bearbeiten von Aufgaben außerhalb des Klassenzimmers sei eine wichtige Herausforderung für die Schülerinnen und Schüler, um selbst organisiert zu lernen. Das eigenverantwortliche Arbeiten müsse man aber mit ihnen üben – und daran scheitern nach seiner Beobachtung nicht nur die Eltern, sondern auch viele öffentliche Ganztagseinrichtungen. »Am Nachmittag werden dort teilweise Personen eingesetzt, die nicht wissen, was vormittags gerade bearbeitet wird.« Diese schlecht bezahlten und oft auch wenig qualifizierten Aushilfskräfte seien »schnell überfordert«. In einem laufenden Modellprojekt begleitet ein Forschungsteam um Klieme mehrere hessische Ganztagsschulen, die ältere Schüler als Lernhelfer einsetzen. In sogenannten gebundenen, also verpflichtenden Ganztagsangeboten gibt es zudem innovative Experimente mit festen Lernzeiten am Nachmittag, die die umstrittenen Hausaufgaben überflüssig machen sollen.
Vor allem Alleinerziehende und Familien, in denen beide Eltern erwerbstätig sind, brauchen dringend Entlastung. Schließlich soll die Zusatzarbeit für die Schule nicht die knappe gemeinsame Zeit mit den Kindern am frühen Abend bestimmen. Die Koalition aus CDU/CSU und SPD hat einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung versprochen. Gelten soll dieser allerdings nur für die Grundschulen, und in Kraft treten soll die Garantie erst 2025. Ein komplett anders organisiertes Bildungssystem aber plant die Bundesregierung keineswegs. Die Gymnasien sollen, von Ausnahmen abgesehen, beim Halbtagssystem bleiben. Gerade an den höheren Schulen warten auf die Jugendlichen gegen Ende ihrer Schullaufbahn immer kompliziertere Aufgaben, die sie zu Hause erledigen sollen. Die quälenden Pflichtübungen am Nachmittag wird es also weiterhin geben – schlechte Aussichten für entspannte und friedliche Familienabende.
Die Delegierung eigentlich schulischer Aufgaben an die Eltern verschärft die soziale Selektion und zementiert die ungleiche Verteilung der Chancen im Bildungssystem.