Wenn Artenvielfalt austrocknet
Der Klimawandel beeinflusst nicht nur den Meeresspiegel und den Energiebedarf zur Kühlung. Vor allem ändert die Erderwärmung die Ökosysteme unserer Umwelt.
Ob im feuchten Januar oder in der weithin anhaltenden Trockenheit des Juni dieses Jahres – es wird zunehmend deutlich: Das Klima ändert sich. Überschwemmungen statt Schnee im Winter lassen Skitouren in deutschen Mittelgebirgen buchstäblich ins Wasser fallen. Skisprungschanzen und die Erinnerung der Älteren an Skiwettbewerbe in diesen Regionen zeugen noch von ganz anderen klimatischen Verhältnissen. Weiße Weihnachten waren für die in diesen Landstrichen wohnende Großelterngeneration selbstverständlich, so ihre Erzählungen.
Keine Frage, der Klimawandel ist längst nicht nur ein akademisches Problem. Im Zuge der allgemeinen Erderwärmung sind die mittleren Temperaturen in Deutschland in den vergangenen 135 Jahren umetwa 1,4 °C und damit um ein knappes halbes Grad mehr als im globalen Durchschnitt angestiegen. Extremwetterereignisse wie Starkregen und Hitzeperioden werden häufiger, so der Deutsche Wetterdienst (DWD) in Offenbach. In der Klimaforschung ist inzwischen weithin unbestritten, dass vor allem die durch menschliche Aktivitäten steigende Konzentration von Treibhausgasen maßgeblich für diese Entwicklung verantwortlich ist.
Das wirft die Frage auf, welchen Einfluss diese klimatischen Veränderungen auf die Biodiversität haben. Biodiversität ist nicht allein Artenvielfalt. Sie umfasst auch die genetische Vielfalt innerhalb einer Art sowie die Vielfalt physiologischer Leistungen und biologischer Wechselwirkungen. Antworten auf die eingangs gestellte Frage finden sich in dem Buch »Der Klimawandel in Deutschland – Entwicklungen, Folgen, Risiken und Perspektiven«. Den Einfluss der Erderwärmung auf die Biodiversität beschreiben Josef Settele und Stefan Klotz vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung Leipzig/Halle (UFZ). Danach habe die Artenvielfalt im Verlauf der Erdgeschichte immer mehr zugenommen, sei jedoch fünfmal durch Massensterben dezimiert worden. Verantwortlich dafür waren in der Vergangenheit Vulkanausbrüche, Meteoriteneinschläge und Kontinental- verschiebungen. Auch aktuell ist nach Ansicht der beiden Wissenschaftler ein Massensterben zu beobachten, diesmal allerdings vom Menschen verursacht. Hierfür sehen sie fünf Faktoren. An der Spitze steht die Landnutzung durch den Menschen, also die Umwandlung von natürlichen Ökosystemen in Nutzökosysteme. An zweiter Stelle folgt schon der Klimawandel, der direkt die Artenvielfalt und deren Lebensräume beeinflusst.
In Deutschland gehen die beobachteten Arten seit Mitte des 20. Jahrhunderts zurück. Der Mensch nimmt immer größere Flächen in Beschlag – sei es für Städte oder die Agrar-, Industrie- und Verkehrsflächen. Seit dem 16. Jahrhundert sind in Deutschland nach Angaben des Bundesamtes für Naturschutz (BfN) 47 Pflanzenarten, zwölf Säugetierarten, 14 Vogel- und zehn Fischarten ausgestorben. Mindestens die Hälfte der heute lebenden Arten ist auf dem Rückzug.
Die Erderwärmung sorgt für eine Verschiebung der Vegetationsphasen, wie auch die langjährigen Beobachtungsdaten des Deutschen Wetterdiensts belegen. Das hat einen erheblichen Einfluss auf den Lebenszyklus von Pflanzen und Tieren.
Klotz leitet den UFZ-Themenbereich Ökosysteme der Zukunft. Zum Thema Klimawandel untersuchen die Biologen dabei drei Aspekte genauer: Was passiert genetisch mit den Organismen und was in deren Physiologie? Wie verändern sich die Verbreitungsmuster? Bei welchen Arten wächst die Population und bei welchen schrumpft sie? Was sind die Konsequenzen für die Wechselwirkungen zwischen den Organismen, wenn zum Beispiel Räuber ihre Beute oder bestimmte Pflanzen ihre Bestäuber einbüßen?
Auf den Klimawandel reagieren die Arten auch mit physiologischen, anatomischen und morphologischen Veränderungen. Ursachen dafür sind zum Beispiel erhöhte UV-Strahlung und längere Trockenperioden. Die Klimaveränderungen können zudem mikrorevolutionäre Prozesse in Gang setzen. So sind beim Kleinen Wiesenknopf durch Mikroevolution veränderte Populationen entstanden. Als Folge des erhöhten CO2-Gehaltes der Luft nimmt die Zahl der Blätter zu.
Bekannt ist bei Vögeln die Konkurrenz um Insekten. Wenn durch mildere Winter die Population der überwinternden Vogelarten weniger reduziert wurde, stehen für zurückkehrende Zugvögel weniger Nahrungsquellen und Nistmöglichkeiten zur Verfügung.
Seit 1951 werden in Deutschland Phänomene wie Blühbeginn oder die Blattentfaltung regelmäßig erfasst. Die beobachteten Veränderungen passen vielfach sehr gut zu Veränderungen bestimmter klimatischer Parameter, was als Beleg für direkte Auswirkungen des Klimawandels auf die Pflanzenarten gewertet wird. Historische Daten zeigen, wie sich die Verbreitung bestimmter Arten in Deutschland verändert hat. Jedoch ist bei der Herstellung eines Kausalzusammenhanges mit dem Klimawandel Vorsicht geboten, denn Landnutzungsänderungen, Nährstoffeintrag und die Einschleppung gebietsfremder Arten haben ebenfalls Einfluss auf die Artenverteilung. Dennoch lassen sich einige Arealveränderungen auf den Klimawandel zurückführen. Zum Beispiel dringt die im Westen Deutschlands heimische Stechpalme weiter nach Norden und Osten vor. In den urbanen Ballungsräumen findet man neue, der Wärme angepasste Arten zuerst. Ihnen bekommt das wärmere Stadtklima gut. Dabei sind die Szenarien für eine fortschreitende Erderwärmung beängstigend. Bei ungebremstem Klimawandel dürfte die Temperatur bis zumJahr 2080 um 4 Grad Celsius steigen.
Mit sogenannten Nischenmodellen lassen sich die Auswirkungen dieser Erwärmung auf den Artenreichtum in Deutschland abschätzen. Hier sind je nach Szenario erhebliche Aderlässe zu erwarten. Bei den Pflanzen sind besonders insektenbestäubte Arten betroffen. Am schlimmsten könnte es Schmetterlinge, Weichtiere sowie Käfer treffen, so die Abschätzung von Settele und Klotz. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine von der Umweltstiftung WWF in Auftrag gegebene Studie der Universität East Anglia in Norwich (Großbritannien). »Sollten die menschengemachten Emissionen an Treibhaus- gasen wie bisher fortschreiten, würde jede zweite Art bis zum Jahr 2080 aus den untersuchten Gebieten verschwinden«, fasst Christoph Heinrich vom WWF Deutschland die Ergebnisse zusammen.
Der Insektenkundler Michael Ohl vom Museum für Naturkunde Berlin ergänzt: »Umweltbelastende Chemikalien sind ein Faktor, der die negativen Effekte von Lebensraumverlusten noch verstärkt.« Die Ökosysteme – so Ohl – bilden sehr komplexe Netzwerke mit vielen Arten. Dabei hängen die Arten voneinander ab. Durch den Ausfall einzelner Arten kann es zu Schwierigkeiten für das gesamte System kommen. Auch wenn sich nur die Artenzusammensetzung ändert, kann das erhebliche Folgen haben.
Christian Hof vom Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum Frankfurt (Main) macht in unseren Breiten eine auffällig zunehmende Population wärmeliebender Arten aus. Auch wenn der Biologe neben dem Klimawandel noch weitere anthropogene Faktoren sieht, ist für ihn sicher, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen der Zunahme der Treibhausgase durch den Verbrauch fossiler Ressourcen, der Klimaerwärmung und Veränderungen der Biodiversität gibt. Den Zahlen des WWF steht er jedoch kritisch gegenüber: »Das Aussterben kaum einer Art ist bislang alleine durch den Klimawandel hervorgerufen. Deshalb bin ich etwas skeptisch bei Zahlen wie denen des WWF-Reports. Wenn da steht, bis zu 50 Prozent der Arten sterben bis 2080 in den wichtigsten Naturgebieten der Erde aus, dann sind diese Zahlen durchaus mit Vorsicht zu genießen.« Hof ist zwar nach wie vor sicher, dass der Klimawandel eine große Herausforderung für viele Arten darstellt. Doch wenn der Landnutzungswandel außen vor gelassen werde wie beim WWF-Report, erhalte man kein realistisches Bild zur Zukunft der Biodiversität. Dieser Wandel sei nach wie vor global ganz massiv. Ein aktuell besonders problematischer Aspekt sei die deutliche Zunahme des Bioenergiesektors. Das heißt, Raps und Mais schränken als Monokulturen ebenfalls die Biodiversität ein, indem die Belegung der Flächen zu einem Lebensraumverlust führt. In Deutschland bedroht zum Beispiel die »Vermaisung« der Landschaft die Vogelvielfalt, und es gibt weniger Rebhühner, Feldlerchen und Kiebitze.
Rachel Warren von der University of East Anglia, die die Studie für den WWF mitverfasst hat, ist auch Hauptautorin einer kürzlich im Fachjournal »Science« veröffentlichten Untersuchung. Für diese wurden umfangreichere Datensätze verwendet und mehrere Klimaszenarien betrachtet – sowohl die in der Klimaschutzvereinbarung von Paris anvisierte Grenze von 1,5 Grad Erderwärmung als auch 2,0 sowie ein Temperaturanstieg um 3,2 Grad. Selbst der letztgenannte Wert ist nur realistisch, wenn die Staaten ihre eher bescheidenen Selbstverpflichtungen zur Minderung von Treibhausgasemissionen wirklich einhalten. Zur Vorhersage des Einflusses auf die Biodiversität haben die Forscher 115 000 landlebende Arten, darunter erstmals 34 000 Insektenspezies betrachtet. »Es gibt klare und eindeutige Belege dafür, dass der Klimawandel bereits die geographische Verbreitung, die Häufigkeit und die Migrationsmuster von Arten beeinflusst hat und damit die Biodiversität des Planeten bedroht«, folgert Tiffany Knight vom Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) in Leipzig. Je höher die Erderwärmung ausfällt, desto gravierender sind die Folgen, so Warren in ihrer präzisierten Prognose zu den Auswirkungen der Erderwärmung auf die Biodiversität. Während bei einem Anstieg um 3,5 °C laut Warren 49 Prozent der Insekten, 44 Prozent der Pflanzen und 26 Prozent der Wirbeltiere die Hälfte ihres Verbreitungsraumes verlieren werden, sind es bei einer Begrenzung auf 1,5 Grad lediglich 6, 8 bzw. 4 Prozent.
Trotz aller Bekenntnisse der deutschen Politik zum Klimaschutz steigen die Kohlendioxidemissionen, auch in Deutschland. Ein Ende ist nicht absehbar, trotz international verbindlicher Klimaschutzabkommen. Die Bundesrepublik Deutschland wird ihr bis 2020 gestecktes Ziel bei der Emissionsminderung nicht einhalten und verweist vorsorglich auf das Zieljahr 2030.
»Sollten die menschengemachten Emissionen an Treibhausgasen wie bisher fortschreiten, würde jede zweite Art bis zum Jahr 2080 aus den untersuchten Gebieten verschwinden.« Christoph Heinrich, WWF Deutschland