Monsterbeschleuniger im All
Hochenergetische Neutrinos konnten jetzt einer Quelle zugeordnet werden: einem aktiven Schwarzen Loch im Sternbild Orion. Von dort könnte auch die kosmische Strahlung stammen.
Obwohl hochenergetische kosmische Strahlen schon vor gut 100 Jahren entdeckt worden sind, ist bislang unklar, woher Teilchenstrahlung mit Energien von bis zu 1020 Elektronenvolt (eV) herkommen könnten. Diese Teilchen sind meist Protonen, wie sie auch im größten Teilchenbeschleuniger der Welt, dem LHC am Europäischen Kernforschungszentrum CERN in Genf, kreisen. Dort jedoch werden nur Energien in der Größenordnung von 1012 eV erreicht.
Die Protonen aus den Weiten des Alls prasseln allerdings von allen Seiten ziemlich gleichmäßig auf die Erde ein. Da es sich um elektrisch geladene Teilchen handelt, werden sie trotz ihrer hohen Geschwindigkeit auf ihrem Weg zigmal durch Magnetfelder abgelenkt, wie sie unsere Galaxis durchziehen. Die Quelle der Strahlung lässt sich da natürlich nicht mehr orten.
Eine Idee, woher die Teilchen kommen könnten, hatte man schon lange: sogenannte Quasare und Blazare. Das sind Schwarze Löcher in großen Galaxien, die die umliegende Materie in sich hineinziehen. Während vom Schwarzen Loch selbst nichts zu sehen ist, werden beim Verschlingen der Materie gigantische Energiemengen frei, die in sogenannten Jets abgestrahlt werden. Diese Jets sind wie zwei riesige Fontänen, die senkrecht auf den Polen des rotierenden Schwarzen Lochs stehen. Blazare nennt man jene Schwarze Löcher, deren Jet in unsere Richtung strahlt. In diesen Jets, so vermuten Astrophysiker, werden die Teilchen der kosmischen Strahlung auf die aberwitzigen Energien beschleunigt, die wir bei den ankommenden Teilchen messen.
Ein Beleg für diese Annahme fehlte bislang. Doch der scheint nun gefunden. Im Herbst vorigen Jahres wurde am Neutrinoteleskop »IceCube« am Südpol ein Neutrino mit der sehr hohen Energie von 290 Teraelektronenvolt gemessen. Neutrinos sind Teilchen, die noch viel leichter als Elektronen sind und keine elektrische Ladung tragen. Die hohe Energie des Teilchens deutete auf eine Herkunft weit außerhalb der Milchstraße hin. Automatisch wurden alle großen Observatorien der Welt benachrichtigt und erhielten die Koordinaten des Himmelsbereichs, aus dem das Teilchen geflogen kam. Und tatsächlich registrierte wenig später das Weltraumteleskop »Fermi« der US-Raumfahrtagentur NASA bei dem schon länger bekannten Blazar TXS 0506+056 im Sternbild Orion einen drastischen Anstieg der Gammastrahlung.
Danach wurde auch ein Gammastrahlenteleskop auf der Erde fündig. »Bei der Nachbeobachtung des Neutrinos mit dem Teleskopsystem MAGIC auf der Kanareninsel La Palma konnten wir den Blazar erstmals auch im Bereich der sehr energiereichen Gammastrahlung nachweisen«, sagt die Koordinatorin der MAGIC-Beobachtungen, Elisa Bernardini vom Helmholtz-Forschungszentrum DESY. »Die Gammastrahlen kommen der Neutrino-Energie am nächsten und tragen damit besonders zu der Entschlüsselung der Produktionsmechanismen der Neutrinos bei.« Auch die NASA-Röntgensatelliten »Swift« und »NuSTAR« und weitere erdgebundene Teleskope im optischen und Radiobereich beobachteten einen Ausbruch des Blazars.
Anders als bei einer früheren Beobachtung im Jahre 2016 stimmte die Himmelsrichtung des beobachteten Neutrinos und die des Blazar-Ausbruchs im Röntgen- und Gammastrahlenbereich diesmal bis auf ein halbes Winkelgrad genau überein. Die nächste andere mögliche Quelle wäre bereits 1,2 Winkelgrad weit entfernt gewesen, so der leitende IceCube-Wissenschaftler in der DESYAußenstelle Zeuthen bei Berlin, Marek Kowalski. Um zu untersuchen, ob das Zusammentreffen des Neutrinos mit den Gamma-Beobachtungen dennoch nur ein Zufall gewesen sein könnte, unterzog ein weltweites Team von Wissenschaftlern aus allen beteiligten Gruppen die Daten einer statistischen Analyse. »Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich lediglich um eine zufällige Koinzidenz handelt, haben wir auf ungefähr 1 zu 1000 bestimmt«, erklärt die Leiterin der statistischen Analyse, Anna Franckowiak von DESY. Die Ergebnisse der Beobachtungen mit den verschiedenen Teleskopen und der statisti- schen Prüfungen wurden am Donnerstag im Fachblatt »Science« (DOI: 10.1126/science.aat1378) veröffentlicht.
Skeptischen Physikern wären die ermittelten Wahrscheinlichkeiten noch nicht ausreichend. Das änderte eine zweite Analyse: Die »IceCube«Forscher durchsuchten die gespeicherten Beobachtungsdaten auf mögliche frühere Messungen von Neutrinos aus der Richtung des jetzt identifizierten Blazars. Tatsächlich fanden sie für September 2014 bis März 2015 einen merklichen zeitweiligen Neutrino-Überschuss von mehr als einem Dutzend dieser Geisterteilchen aus der Richtung von TXS 0506+056, wie sie in einem weiteren Artikel im gleichen »Science«-Heft (DOI: 19.1126/ science.aat2890) berichten. Diese Neutrinos waren damals wegen ihrer geringeren Energie nicht beachtet worden. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Neutrinoüberschuss lediglich ein statistischer Ausreißer ist, wird in dem Artikel auf nur 1 zu 5000 geschätzt.
Neutrinos entstehen bei Reaktionen, an denen Protonen, die Hauptbestandteile der kosmischen Strahlung, beteiligt sind. Daher versprechen die aktuellen Beobachtungen die Frage nach der Entstehung dieser energiereichen Strahlung zu beantworten. »Das kosmische energiereiche Neutrino zeigt uns daher, dass der Blazar Protonen auf höchste Energie beschleunigt. Damit könnten wir tatsächlich eine Quelle für die kosmische Strahlung gefunden haben«, sagt DESY-Physikerin Bernardini.
Einfach allerdings ist die Suche nach solchen Quellen mithilfe der Neutrino-Astronomie nicht. Denn der Durchflug des Neutrinos von rechts nach links, sichtbar gemacht durch »IceCube«-Sensoren Vorteil dieser Teilchen, dass sie wegen ihrer fehlenden elektrischen Ladung problemlos kosmische Nebel, Sonnen und Planeten durchfliegen können, ist zugleich auch ein Nachteil. Denn ein Teilchen, das kaum je in Wechselwirkung mit anderen tritt, ist schwer zu messen. Messbar wird es erst, wenn es beim Zusammenstoß mit einem Atomkern zu einer Reaktion kommt, bei der ein geladenes Teilchen entsteht und dank der Stoßenergie in der gleichen Richtung weiterfliegt.
Bei »IceCube« dient ein Kubikkilometer Antarktiseis als Reaktions-»Gefäß« zur Messung. In dem Eis wurden zwischen 2005 und 2011 reichlich 5000 extrem empfindliche Lichtsensoren in 86 Bohrlöchern versenkt – jedes 2500 Meter tief. Die ballgroßen Sensoren nehmen im Dunkel der Tiefe die bläulichen Lichtblitze auf, die beim Flug der von den Neutrinos erzeugten geladenen Teilchen entstehen. Aus der räumlichen Verteilung dieser Lichtblitze, des sogenannten Tscherenkow-Lichts, lassen sich dann die Flugbahn und die Energie des ursprünglichen Neutrinos errechnen. Die meisten gemessenen Ereignisse stammen allerdings von Teilchen, die die Forscher nicht interessieren. Von den 2000 pro Sekunde gemessenen Ereignissen sind die meisten sogenannte Myonen, leichte, elektrisch geladene Teilchen, die durch die kosmische Strahlung in der Erdatmosphäre entstehen. Nur alle zehn Minuten ist ein Neutrino dabei. Davon wiederum kommen nur zehn pro Jahr von außerhalb unseres Sonnensystems. Und so wundert der Wunsch der Neutrinoforscher nicht, den Detektor am Südpol zu vergrößern, um mehr der exotischen Teilchen zu beobachten und deren Bahnen noch genauer zu bestimmen.