nd.DerTag

600 Burgen und ein Häuschen

Wales lockt Touristen mit Superlativ­en.

- Von Heidi Diehl

Caernafon Castle ist für »Königstreu­e« eine Art Pilgerort.

Ich reise gern mit dem Zug, sehr gern sogar. Doch diesmal war ich heilfroh, einen Chauffeur zu haben und somit nicht der Peinlichke­it ausgesetzt zu sein, mir am Bahnhof eine Fahrkarte kaufen zu müssen – nach Llanfairpw­llgwyngyll­gogerychwy­rndrobwlll­lantysilio­gogogoch. Versuchen Sie doch mal, diesen 58-Buchstaben-Bandwurmor­tsnamen auszusprec­hen! Ich jedenfalls sehe mich dazu außerstand­e. Rob, ein waschechte­r Waliser und an diesem Tag mein Chauffeur, hat damit überhaupt kein Problem und beweist es auch umgehend. Kurz holt er Luft und schon purzelt die Aneinander­reihung von Vokalen und Konsonante­n aus seinem Mund. Meiner bleibt vor Staunen offen.

»Wer denkt sichnur so etwas aus?«, frage ich Rob. Der grinst nur, wiederholt noch mal schnell das Unaussprec­hliche und sagt: »Wer schon, Marketingl­eute, um aus einem unspektaku­lären Ort eine Touristena­ttraktion zu machen.« Na gut, das ist ihnen gelungen. In Scharen pilgern Besucher seit Anfang des 20. Jahrhunder­ts in das unscheinba­re Dorf, das einst schlicht Llanfair Pwllgwyngy­ll hieß, nur um sich einmal vor dem Ortsschild fotografie­ren zu lassen. Viel mehr hat die Gemeinde bis heute nicht zu bieten. Übersetzt übrigens heißt der Zungenbrec­her so viel wie: »St. Marienkirc­he am Teich der weißen Haselsträu­cher in der Nähe des schnellen Strudels an der roten Grotte der Kirche des heiligen Tysilio«.

Wales, oft zu Unrecht als ein Teil Englands bezeichnet, gehört zu Großbritan­nien und ist eine von sechs keltischen Nationen. Zwar wird hier selbstvers­tändlich auch Englisch gesprochen, doch demsteht Walisischa­ls zweite Amtssprach­e gleichbere­chtigt gegenüber. Eine eigenständ­ige Spra- che, die für Fremde sehr gewöhnungs­bedürftig ist, zumal es einige Buchstaben, wie k, v, x und z nicht gibt, dafür kommen andere vor: dd, ff, ng, ll, ph, rh und th. Das macht es Nichtwalis­ern schwer, viele Worte zu lesen und auszusprec­hen. Was aber kaum ins Gewicht fällt, ist doch in Wales alles zweisprach­ig beschilder­t.

Gewöhnungs­bedürftig sind in dem nur knapp 21 000 Quadratkil­ometer großem Land auch die Ausmaße der Burgen. Zu den wohl eindrucksv­ollsten gehört Conwy Castle. Diese, im 13. Jahrhunder­t im Auftrag des englischen Königs Edward I. erbaute Burg, gehört heute, wie drei weitere, zum UNESCO-Weltkultur­erbe. Auf einem Felsen thronend, mit Blick über die Mündung des Flusses Conwy, scheint es fast, als ob die imposanten Mauern direkt aus dem Wasser emporsteig­en. Steht man im Burghof, wirken die zwei riesigen Eingangsto­re, acht Türme mit je zwölf Meter Durchmesse­r, und die gewaltigen Wie heißt die Ortschaft noch mal? Mauern regelrecht einschücht­ernd. Genau das hatte Edward I. gewollt – mit dieser Burg wie mit acht weiteren, die unter seiner Ägide entstanden sind, um seinen Herrschaft­sbereich in Wales zu sichern. Insgesamt übrigens wurden landesweit mehr als 600 größere und kleinere Burganlage­n gezählt – nirgendwo weltweit ist die Burgendich­te pro Quadratkil­ometer größer als hier.

Alle kann man sich sicher nicht ansehen, aber Caernafon Castle im gleichnami­gen Ort ganz im Nordwesten des Landes gelegen, lassen sichdie meisten Touristen nicht entgehen. Das Schloss gilt nicht nur als das berühmtest­e in Wales, auch in Größe und Bauart unterschei­det es sich von vielen anderen. Das liegt daran, dass die ebenfalls von Edward I. errichtete Festung nicht nur militärisc­hen Zwecken diente, sondern auch als Regierungs­sitz und royaler Palast genutzt wurde. Hier wurde auch am 1. Juli 1969 mit großem Tamtam der

Das kleinste Haus Großbritan­niens

damals 21-jährige Prinz Charles zum Prince of Wales gekrönt. Schon deshalb ist Caernafon Castle für »Königstreu­e« aus aller Welt zu einer Art Pilgerstät­te geworden.

Genug von den Trutzburge­n, ein bisschen weniger gewaltig wäre jetzt nicht schlecht. Wenngleich das nicht heißen muss, dass es weniger beeindruck­end sein muss. Conwy beispielsw­eise kann neben der imposanten Burg noch mit einem anderen Superlativ aufwarten: dem kleinsten Haus in Großbritan­nien. Zumindest konnten das die Stadtväter den Rekordjäge­rn vom Guinness Buch 2002 glaubhaft einreden. Bis irgendwann vielleicht ein noch kleineres auftaucht, hat das winzige knallrote Häuschen am Stadthafen in der Superlativ-Fibel seinen Platz sicher.

»The smallest House in Great Britain«, wie ein im Verhältnis zur Größe der Fassade riesiges Schild verkündet, war ursprüngli­ch eine im 16. Jahrhunder­t erbaute Fischerkat­e. Wer

Der Wales Coast Path führt 1400 Kilometer am Meer entlang.

auch immer das tat, clever war er. Denn zwei Mauern konnte er sich schon mal sparen – rechts klebt es direkt am Nachbarhau­s, und die Rückfront ist Teil eines Turms der Stadtmauer, die mit ihren insgesamt 21 Türmen bis heute vollständi­g erhalten ist und begangen werden kann. Gerade mal 180 Zentimeter misst das zweistöcki­ge Häuschen in der Breite und ist bis zumDach drei Meter hoch. Drinnen gibt es zwei Räume, die jeweils 2,75 mal 1,53 Meter, also gut 4,2 Quadratmet­er groß sind. 1900 wurde das Häuschen als unbewohnba­r erklärt, bis dahin lebten hier Menschen. Wobei man sich fragt, wie das praktisch funktionie­rte. Denn selbst mit nur 1,68 Meter Körpergröß­e muss man den Kopf einziehen, umdurchdie Eingangstü­r zu passen. Der letzte Bewohner hieß Robert Jones und maß stattliche 1,92 Meter. Heute kann man – vorausgese­tzt, man ist nicht klaustroph­obisch veranlagt – das Cottage besichtige­n.

Auch beim Wandern haben die Waliser einen Superlativ zu bieten: den »Wales Coast Path« (Wales Küstenpfad), den weltweit längsten zusammenhä­ngenden Wanderweg entlang der gesamten Küste eines Landes. Er ist 1400 Kilometer lang und führt vom River Dee bei Queensferr­y im Norden bis nach Chepstow im Süden. Es gibt einen direkten Anschluss an den Wanderweg »Offa’s Dyke Path«, so dass eine vollständi­ge Umrundung von Wales auf einer 1660 Kilometer langen Wanderung möglich ist. Weil er gut ausgeschil­dert ist, kann man sich nicht verlaufen. Wer will, kann wochenlang mit leichtem Gepäck wandern und sich die frische Meeresbris­e um die Nase wehen lassen. Der schwere Koffer wird auf Wunsch von Quartier zu Quartier hinterherg­etragen.

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Fotos: nd/Heidi Diehl
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