Sonntags in der Bibliothek
Wie das Berliner Sonntagsbureau Menschen in der Amerika-Gedenkbibliothek zusammenbringt, um miteinander Wissen und Erfahrungen zu teilen.
Berlin liegt in einer Hochdruckzone, Sonnenschein auf dem Blücherplatz, volles Programm. Grüppchen sammeln sich zwischen dem U-Bahnhof Hallesches Tor und der Amerika-Gedenkbibliothek. »Seid ihr die Lachyogagruppe?« Eine Frau verneint: »Die sind dort drüben.« Sie zeigt, wo. »Welche Gruppe seid ihr?« »Wir gehen zur Demo.« Sie gehen. Hier sammeln die Leute vom Lachyoga kleine Holzstücke von dem Rasenstück, auf dem sie gleich mit ihren Atemübungen beginnen. »Manmuss lächeln, wennman bei uns mitmachen will«, sagt ein Mann. Von der nächstgelegenen Grünfläche zieht Grillgeruch herüber. Lindenblüten platzen auf und verströmen Seifenduft. Wer kann, hält sich im Freien auf. Doch die Bibliothek wird auch heute wieder voll.
Dass Bibliotheken sonntags öffnen, verhindert Paragraf 9 Arbeitszeitgesetz. Sonntags zwischen 0 und 24 Uhr darf nicht gearbeitet werden. Ausgenommen sind Not- und Rettungsdienste, Polizei, Krankenhäuser, Gaststätten, Theater, Museen und wissenschaftliche Präsenzbibliotheken. Öffentliche Leihbibliotheken müssen am siebten Tage ruhen. Trotz dieser Vorschrift ist die AGB, die Amerika-Gedenkbibliothek, eines der beiden großen Häuser der Berliner Zentral- und Landesbibliothek, seit dem 24. September 2017 jeden Sonntag geöffnet. Warum? »Die Stadtgesellschaft braucht diesen Ort Bibliothek«, sagt ZLB-Pressesprecherin Anna Jacobi. Denn wenn Fitnesscenter sonntags geöffnet sein dürften, warum nicht Orte, wo Menschen etwas für ihre geistige Fitness tun?
Die Leitung der ZLB dachte lange über eine Sonntagsöffnung nach und fand heraus: Mag der normale Bibliotheksbetrieb am Sonntag verboten sein, Veranstaltungen sind es nicht. »Natürlich nicht irgendwelche! Wir können etwas ausprobieren.« Und weil BibliothekarInnen sonntags nicht arbeiten dürfen, wurde ein Veranstaltungsbüro gesucht, das die »Aktion offener Sonntag in der AGB« inhaltlich konzipiert und umsetzt. »Wir sind kein Veranstaltungsbüro, wir sind eines geworden«, sagt Teena Lange, selbstständig, Betreiberin des Raums für Performancekunst »Grüntaler 9«. Sie und ihre Kolleginnen sind alle freischaffende Kulturschaffende, heute halten sie im Foyer der Bibliothek die »Sprechstunde mit dem Sonntagsbureau« ab. Sie haben Tische zusammengeschoben, darauf stehen Ther- moskannen und Tassen, es liegen Flyer mit dem aktuellen Programm aus.
Mindestens eine der Frauen vom Sonntagsbureau ist hier stets ansprechbar, aber sie sind auch in der Bibliothek unterwegs, um etwas zu organisieren oder eine der acht, neun Veranstaltungen des Sonntags zu eröffnen. In die Sprechstunde kommt, wer Fragen hat oder eine Veranstaltungsidee, wie eine Frau, die gerade auf den Welttag der Alphabetisierung am 8. September hinweist. Vorhin war ein junger Mann da, der gemeinsam mit seiner Mutter einen Kurs anbieten möchte, wie man das Handy sinnvoll mit Apps ausstattet. Und nein, Bibliotheksberatung gibt es heute nicht, die BibliothekarInnen dürfen nicht arbeiten.
»Ich habe früh gelernt, dass es sich gehört, Veranstaltungen selbst zu organisieren«, erzählt Anja Ibsch, Performancekünstlerin im Sonntagsbureau: »Wir KünstlerInnen sehen uns eigentlich immer nur gegenseitig zu, ob in New York oder Berlin. Wir müssen aus der Kunstblase raus. Diese Reise geht viel weiter.« Menschen zueinander zu bringen, ist die erste, wichtigste Idee des Sonntagsbureaus. Neben dem Lachyoga gehört die Zeitbibliothek zu den allsonntäglichen Angeboten. Darin stellt sich eine Person exklusiv zum Gespräch zur Verfügung, Ornithologen, Hebammen, Imker und Roller-DerbySportlerInnen waren schon da. Heute kommen ehrenamtliche Mitarbeiterinnen von Hospizdiensten. »Jeder Mensch hat etwas zu erzählen«, sagt Anja.
Menschen zueinander bringen, ermöglichen, dass sie miteinander Wissen teilen, das klingt zunächst einfach. Um Einfaches überzeugend zu realisieren, braucht es kluge Gedanken und die Bereitschaft zu kleinteiliger Arbeit: Ideen sammeln, Menschen ansprechen, die sie umsetzen, das dann organisieren. Dazu gehört, jede Woche neue Leute für die Zeitbibliothek anzusprechen, dazu gehört auch, Mitmachangebote zu finden, wie Simultanschach, Basteln mit Kindern, Masken und Puppen bauen, Roboter löten. Es gibt viel zum Schauen und Hören, Schatten- und Maskentheater, Performances, Lesungen. Das Kreuzberger Nasenflötenorchester flötete sich schon durch die Regalreihen. Jeden Sonntag kann man beim »Shared Reading« Leseerlebnisse teilen, viele Stammgäste sind dabei. Einer fragt gerade, wo der Lesekreis heute stattfindet. Heute, erstmals und ausnahmsweise, fällt er aus. Der Leser geht enttäuscht.
Geeignete Formate für die Sonntagsöffnung muss man finden und ausprobieren. Einmal pro Woche treffen sich die Aktiven des Sonntagsbureaus, dazu kommen Gespräche mit Veranstaltungspartnern und Bibliothek, E-Mails, Telefonate, Buchhaltung. Acht Stunden sind die Aktiven sonntags in der Bibliothek. Oft kommen um zwanzig Wochenstunden Arbeit zusammen, zusätzlich zur eigenen künstlerischen Tätigkeit, meist neben weiteren Jobs. Dabei erweitere sich das Netzwerk der Sonntagsbureaulerinnen, das berufliche wie private. »Wir treffen uns eben gern mit Menschen«, sagt Teena, Bettina ergänzt: »Und miteinander.« Arbeitsund Freizeitinteresse mischen sich auch bei den BesucherInnen. Wer sonntags zum Arbeiten kommt, wünscht sich vielleicht mehr Ruhe – doch ohne Veranstaltungen bliebe die Bibliothek geschlossen. Manmuss sich darüber verständigen. Anja bezeichnet das als »demokratischen Prozess«. Das Sonntagsbureau provoziere auch, beispielsweise indem das Programm zuweilen geräuschvoll ist.
Auch heute sind alle Arbeitsplätze besetzt, im Lernzentrum mit Jugendlichen. Das Wetter ist toll, was tun sie hier? »Wir lernen für eine Matheklausur.« Warum hier? »Weil hier offen ist.« Sie kommen aus Wilmersdorf. Mit dem Bedürfnis nach einem Raum zum gemeinsamen Arbeiten sind sie nicht allein. Je mehr öffentlicher Raum verschwindet, reglementiert, privatisiert, von kommerziellen Angeboten besetzt wird, umso wichtiger werden Bibliotheken. »Hier braucht man keine Anmeldung, es kostet nichts, niemand fragt was, du musst nicht konsumieren«, sagt Teena. Alleinstehende kommen, weil sie nicht komisch angeschaut werden, Familien kommen gezielt zum Kinderprogramm. Menschen, die sich nur mal ausruhen wollen, sind willkommen. Manche Leser kommen jeden Sonntag, manche jeden Tag.
Was außer den Büchern und dem Programm wird dafür noch gebraucht? »Partizipation, Improvisation, Kaffeestation«, sagt Anja. Es muss geputzt werden, ein Wachdienst ist unverzichtbar, ebenso die Kollegen Ausleihautomaten. Manche Leserin, die lediglich am Automaten ein Buch zurückgeben wollte, sah, dass die Bibliothek offen war, und blieb. So ohne BibliothekarInnen, wie funktioniert das? Wer hilft, wer berät? Helfen die NutzerInnen sich gegenseitig? Tatsächlich: Sie reden miteinander. Und übrigens fragt gerade jetzt der Shared-Reading-Teilnehmer von eben, ob er den Lesekreis nicht selbst anbieten kann. Während das Sonntagsbureau mit ihm bespricht, wo und wie, kommt der zweite. Wenig später sehe ich sie im Salon sitzen, nun in der Gruppe.
Unten, in der Kinder-und-Jugendbibliothek kann man auf Kissen liegen, lesen, träumen. Im Innenhof, neben dem zottligen Ahornbaum und dem leise sprudelnden Brunnen, fertigen die Künstlerinnen und Schwes- tern Katja und Nadja Schütt mit Kindern Stabpuppen. Ein Mädchen zeigt mir ihre selbst gebauten Puppen, eine Fee, einen gepunkteten Hund, eine Meerjungfrau. Ein Eins-zu-Eins-Erlebnis sei das, selten im Alltag von Familien, sagt Katja. Katja arbeitet einmal im Monat beim Sonntagsprogramm, Nadja unterstützt das Sonntagsbureau jede Woche. Sie erlebt diesen Job ausschließlich positiv: »Als ich in den Park gegangen bin, um Kinder einzuladen, kamen sie in Scharen. Viele waren noch nie in einer Bibliothek und fragten schüchtern, ob sie ein Buch ansehen dürften.«
Das Sonntagsbureau hat ein Budget zur Verfügung, für Materialkosten, Honorare für Veranstaltungspartner und eben das Sonntagsbureau selbst. Gut wirtschaften ist mit dem begrenzten Budget dringend nötig. Immerhin werde es nicht »für Hüpfburgen« verwendet, sondern für die guten, oft ungewöhnlichen Angebote von Menschen, »die genauso prekär arbeiten wie wir«. Was könnte schöner sein? Anja meint: »Wenn man mit der Gesellschaft unzufrieden ist, kann man weinen. Oder etwas tun.« Teena sagt: »Wir machen beides.« Anja: »Dass die Leute zur Anti-AfD-Demo gehen, wo fängt das an? Mit Bildung.«
»Bibliotheken sind zutiefst demokratische Orte«, hörte Anna Jacobi eine Freundin sagen, als sie hier zu arbeiten begann. Es sind Orte, an denen Menschen längst nicht mehr nur Bücher ausleihen, sondern sich aufhalten, arbeiten, nicht allein sind. »Leute wollen gern sein, wo auch andere sind.« Bibliotheken seien die Urform des Co-working. »Viele Menschenmögen bei der Arbeit diese halb leise Atmosphäre mit Hintergrundgeräuschen.« Einst geplant für 500 NutzerInnen am Tag wird die AGB heute täglich von mehreren tausend Menschen genutzt. An Sonnabenden kommen durchschnittlich 4300 Personen. Bereits am ersten Sonntag, den das Bureau veranstaltete, kamen 1200, im Winter bis zu 3000, im Durchschnitt 2000. »Wir wollen, dass Bibliotheken sonntags öffnen können. Können, nicht müssen, das ist auch eine Frage der Ressourcen«, sagt Anna. Dafür müssten aus dem Gesetz nur zwei Wörter gestrichen werden, »wissenschaftlich« und »Präsenz«. Das Projekt »sonntagsoffen« war für sechs Monate geplant. Eben wurde es zum zweiten Mal verlängert, bis Ende 2018. »Die Abstimmung mit den Füßen ist sensationell«, sagt Anna.
»Hier braucht man keine Anmeldung, es kostet nichts, niemand fragt was, du musst nicht konsumieren.« Teena Lange, Performancekünstlerin und Mitglied im Sonntagsbureau