nd.DerTag

Diesmal war es kein Underdog

- Sebastian Bähr über Polizeigew­alt

Ein jüdischer Professor aus den USA ist bei seinem Deutschlan­dbesuch gleich zweimal Opfer geworden: Erst durch den Angriff eines Antisemite­n, dann aufgrund einer Verwechslu­ng durch Polizeiprü­gel. Der Vorwurf des Forschers: Die Beamten hätten ihn mit Einschücht­erungen von einer Beschwerde abbringen wollen und später bei der Darstellun­g des Übergriffs gelogen. Zwei gravierend­e Missstände der deutschen Gesellscha­ft verdichten sich in der Episode: Das Land hat ein Problem mit Antisemiti­smus; das Land hat ein Problem mit Polizeigew­alt. Und über Letztere wird in diesem Fall nur umfassend berichtet, weil das Opfer ein Professor ist – der selbst kluge Worte dafür findet: »Wäre ich ein Underdog der deutschen Gesellscha­ft, würde sich niemand dafür interessie­ren.«

Der G20-Spruch von Olaf Scholz, »Polizeigew­alt hat es nicht gegeben«, ist bei Behörden Leitprinzi­p. Arme Menschen, Migranten, Geflüchtet­e, Demonstran­ten, Fußballfan­s oder Pechvögel, die zur falschen Zeit am falschen Ort sind, erleben sie trotzdem Tag für Tag. Nur rund drei Prozent ihrer Anzeigen werden zur Anklage gebracht, die Anzahl der Verurteilu­ngen ist noch geringer.

Schon seit Jahren fordern Bürgerrech­tler unabhängig­e Ermittlung­sbehörden für Polizeigew­alt, eine konsequent­e Kennzeichn­ungspflich­t und eine selbstkrit­ische Fehlerkult­ur der Behörden. Stattdesse­n: Verschärft­e Polizeiges­etze, die die Gefahr von Machtmissb­rauch weiter steigern. So verschreck­t man nicht nur ausländisc­he Professore­n, so gefährdet man den sozialen Frieden.

Newspapers in German

Newspapers from Germany