Gericht rügt »rechtswidrige« Abschiebung
Islamist droht in Tunesien Folter / Unionspolitiker verteidigen Vorgehen / Strafanzeige gegen Seehofer
Am Freitag ist der »Gefährder« Sami A. abgeschoben worden. Das zuständige Gericht fühlt sich übergangen, ein SPD-Politiker stellt Strafanzeige gegen Horst Seehofer.
Am Freitag wurde der in Bochum lebende islamistische »Gefährder« Sami A. in sein Heimatland Tunesien abgeschoben. A. soll eine Kampfausbildung bei Al-Qaida absolviert und in einer Leibgarde von Osama bin Laden tätig gewesen sein. Gegen seine Abschiebung nach Tunesien bestand in den letzten Jahren ein Verbot, da ihm dort Folter drohte. Für das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen ist die Foltergefahr nicht ausgeräumt. Es verhängte ein weiteres Abschiebeverbot. Dies erreichte die abschiebenden Behörden am Freitag allerdings erst, als Sami A. schon nach Tunesien abgeschoben und den dortigen Behörden überstellt worden war. Die Gelsenkirchener Richter beklagen deshalb nun ein »grob rechtswidriges« Verhalten, das »grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien« verletze. Das Gericht war nicht über den Zeitpunkt der Abschiebung informiert worden, obwohl mehrere, die Abschiebung betreffende Verfahren, bei ihm anhängig waren.
Aus der Politik gibt es unterschiedliche Reaktionen. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann betonte zwar, dass es richtig sei, niemanden abzuschieben, »dem im Herkunftsland Folter oder gar die Todesstrafe« drohe. Wenn so jemand aber eine Gefahr für die deutschen Bürger sei, müssten »unsere eigenen Sicherheitsinteressen zur Geltung gebracht werden«, erklärte er in der »Welt«. Armin Schuster, Innenpolitiker der CDU, hält die Abschiebung für »verantwortbar und richtig«. Andere Unionspolitiker halten das Abschiebeverbot des Verwaltungsgerichts für falsch.
In der SPD ist man sich uneinig. Mancher Politiker befürwortet die Abschiebung. Der nordrhein-westfälische Landtagsabgeordnete Sven Wolf hingegen hat Strafanzeige gegen Bundesinnenminister Horst Seehofer gestellt. Er kritisiert, dass der CSU-Politiker das Gericht missachtet habe. Der Verdacht stehe im Raum, dass die Abschiebung erfolgt sei, damit der Innenminister »wenigstens ein einziges Mal« zeigen könne, dass er durchsetzungsstark sei. Wolf kritisiert, man dürfe nicht mit dem Rechtsstaat »tricksen«. Ähnlich äußert sich auch der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki. Er sagt, es werde sich rächen, wenn »rechtsstaatliche Grundsätze einem gesunden Volksempfinden« geopfert würden. Mit der undurchsichtigen Abschiebung von Sami A. würde »die Erosion des Rechtsstaats« vorangetrieben. Kubickis Parteifreund, der nordrhein-westfälische Integrationsminister Joachim Stamp, möchte gemeinsam mit der Ausländerbehörde von Bochum gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts, dass Sami A. nach Deutschland zurückgeholt werden muss, Beschwerde einlegen.
Dass Sami A. aus Tunesien zurückkommt, gilt derzeit als unwahrscheinlich. Direkt nach seiner Abschiebung ist er von tunesischen Sicherheitsbehörden verhaftet worden. Sofiène Sliti, Sprecher der dortigen AntiterrorStaatsanwaltschaft, erklärte, dass es in Tunesien ein Verfahren gegen Sami A. gebe. Eine Ausreise nach Deutschland komme deshalb nicht in Frage.
Man dürfe nicht mit dem Rechtsstaat tricksen, betont der SPD-Politiker Sven Wolf.
Am Freitag wurde der Tunesier Sami A. abgeschoben. Sicherheitsbehörden klassifizieren den 42-Jährigen als islamistischen »Gefährder«. Rund um den Fall ist eine Debatte entbrannt.
Im gesamten Jahr 2018 hat das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen erst vier Pressemitteilungen veröffentlicht. Am Freitag kamen gleich drei neue dazu. Ein gutes Indiz dafür, dass es sich bei der Abschiebung von Sami A. nicht um einen gewöhnlichen Vorgang handelt. Der Tunesier wird in Medien gern als »Leibwächter von Osama bin Laden« bezeichnet. 1999 soll er eine militärische Ausbildung in einem Stützpunkt von Al-Qaida in Afghanistan erhalten haben und in die Leibgarde des Terrorführers aufgestiegen sein.
Sami A. bestreitet allerdings diese Vorwürfe. Er will in diesem Zeitraum eine religiöse Ausbildung in Pakistan erhalten haben. Ein 2006 eingeleitetes Verfahren der Bundesanwaltschaft wurde schnell wieder eingestellt, da es keine Beweise für die Mitgliedschaft in der Terrororganisation gibt. Unstrittig ist dagegen, dass Sami A. in islamistischen Kreisen verkehrt.
Deswegen wird Sami A. seit Jahren als islamistischer »Gefährder« geführt. Er muss sich darum täglich bei der Polizei melden. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), die Bochumer Ausländerbehörde und diverse Politiker wollten Sami A. schon seit Jahren abschieben. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) erklärte die Ausweisung von A. zur Chefsache. Doch es gab Hindernisse. 2010 wurde gerichtlich ein Abschiebeverbot festgestellt, da Sami A. in Tunesien Folter droht.
Vier Jahre später versuchte das BAMF dann zum ersten Mal, dieses Verbot aufzuheben. Nach dem »Arabischen Frühling« habe sich die Situation in Tunesien geändert, Folter sei nicht mehr zu erwarten. Das Verwaltungsgericht in Gelsenkirchen sah dies anders. Im Falle von Sami A. bestehe »nach wie vor ein hohes Risiko«, gefoltert und unmenschlich behandelt zu werden, so das Gericht. Im vergangenen Monat wurde der nächste Versuch unternommen. Das BAMF widerrief das Abschiebever- bot, die Bochumer Ausländerbehörde erließ eine »Abschiebungsandrohung«. Sami A. ging gerichtlich gegen beides vor. Beide Maßnahmen bedeuten in normalen Verfahren erst einmal nicht viel. Abschiebungsandrohungen werden auch verschickt, wenn eine Abschiebung nicht konkret ansteht.
Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, konfrontiert mit den zahlreichen Anträgen von Sami A., versuchte nun, sich mit dem BAMF sowie der Ausländerbehörde in Bochum in Verbindung zu setzen. Die Verwaltungsrichter wollten sicher- stellen, dass A. nicht abgeschoben wird, bevor sie über seine Anträge entschieden haben. Noch am vergangenen Mittwoch wollte das Gericht vom BAMF dafür eine sogenannte Stillhaltezusage. Es drohte an, sonst eine vorläufige Entscheidung zu treffen. Das BAMF gab sich kooperativ. Das Gericht fällte eine ordentliche Entscheidung, die am vergangenen Freitag gegen acht Uhr verschickt wurde.
Zu diesem Zeitpunkt saß Sami A. aber schon in einer extra gecharterten Maschine nach Tunesien. Die Abschiebung hatte begonnen. Das Gericht versuchte, noch zu intervenieren. Doch es scheiterte dabei. Bei der Ausländerbehörde konnten den Gelsenkirchener Richtern keine Angaben zu Flugdaten gemacht werden. Der gerichtlichen Forderung, Sami A. umgehend zurückzufliegen, wurde nicht nachgekommen. Ob das Gericht hier bewusst ignoriert wurde oder ob es sich um eine schwerwiegende Kommunikationspanne handelt, ist bisher unklar.
Im Verwaltungsgericht Gelsenkirchen ist man jedenfalls wütend über das Handeln der Behörden. Es sei »grob rechtswidrig«, für Sami A. be- stehe weiterhin ein Abschiebeverbot, er müsse nach Deutschland zurückgeholt werden. Außerdem wirft das Gericht »allen beteiligten Behörden« vor, dem Gericht »trotz mehrfacher Anfrage« den Zeitpunkt der Abschiebung nicht mitgeteilt zu haben. Insgesamt seien »grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien« verletzt worden.
Vom nordrhein-westfälischen Integrationsministerium, das von der FDP geführt wird, heißt es in einer Stellungnahme gegenüber dem »nd«, dass Sami A. »vollziehbar ausreisepflichtig« gewesen sei. Gerichtliche Entscheidungen gegen die Abschiebung von A. hätten zu dem Zeitpunkt des Abflugs nicht vorgelegen. Eine Verkündung sei »nicht erfolgt«. Gemeinsam mit der Bochumer Ausländerbehörde will das Ministerium nun Beschwerde gegen die Anordnung des Gerichts einlegen, dass Sami A. aus Tunesien zurückgeholt werden muss. Zu weiteren Fragen äußert sich das Innenministerium »wegen des laufenden Verfahrens« nicht. Auch das BAMF äußerte sich am Wochenende nicht zu den Vorwürfen, an einer rechtswidrigen Abschiebung beteiligt gewesen zu sein.
Im Verwaltungsgericht Gelsenkirchen ist man wütend über die Behörden. Für Sami A. bestehe weiter ein Abschiebeverbot, er müsse deswegen zurückgeholt werden.