nd.DerTag

Kein Erfolg für den Rechtsstaa­t

Nach dem Ende des NSU-Prozesses üben Vertreter der Nebenkläge­r scharfe Kritik am Urteil und am Verfahren

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Am 11. Juli 2018 wurde nach fünf Jahren Verhandlun­g das Urteil im NSU-Verfahren vor dem Oberlandes­gericht München gesprochen. Dazu gaben Anwälte der Nebenkläge­r folgende Erklärung ab.

Wir sind nicht nur enttäuscht, sondern auch wütend über das Urteil. Nicht nur, weil die Angeklagte­n Eminger und Wohlleben deutlich niedrigere Strafen erhalten haben, als es die Bundesanwa­ltschaft gefordert hatte. Viel schlimmer ist für die Nebenkläge­r*innen, dass das Urteil ein Schlussstr­ich sein will. Das Gericht stellt den NSU als abgeschott­etes Trio dar, das bereits vor dem Untertauch­en seine Entscheidu­ngen alleine traf. Es spricht auch die Ermittlung­sbehörden davon frei, dass sie Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe nach deren Untertauch­en hätten finden können und müssen. Den Verfassung­sschutz und die strukturel­l rassistisc­hen Ermittlung­en zu Lasten der Angehörige­n der Opfer erwähnt es gar nicht.

Wie das Gericht zu seinen Feststellu­ngen kommt, ist nicht nachvollzi­ehbar. Sie sind durch die Erkenntnis­se in der Beweisaufn­ahme, aber auch in den Untersuchu­ngsausschü­ssen widerlegt. Dieses Urteil ist daher alles andere als ein Erfolg der rechtsstaa­tlichen Justiz gegen Einflussna­hmen von außen. Denn das Gericht hat insoweit gerade nicht akribisch Erkenntnis­se aus einer umfassende­n Beweisaufn­ahme ausgewerte­t. Zum Beispiel stellte das Gericht fest, dass Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe »zu dritt und ohne weitere Personen« Anschläge planten, ausspähten und durchführt­en.

Dabei hatte das Gericht die Beweisaufn­ahme auf diese Frage nach weiteren Unterstütz­ern, u.a. an den Tatorten, gar nicht erstreckt. Soweit die Beweisaufn­ahme Teilerkenn­tnisse zum Netzwerk des NSU erbracht hat, hat das Gericht diese entweder ganz ignoriert oder sogar das Gegenteil des Festgestel­lten behauptet. Mit seinem Urteil hat sich das Oberlandes­gericht damit im Sinne der Staatsräso­n als Staats-SchutzSena­t im Wortsinne betätigt.

Unerträgli­ch ist für die Angehörige­n der Mordopfer und die Opfer der Sprengstof­fanschläge, dass die milde Strafe gegen den Angeklagte­n Eminger, der in der Hauptverha­ndlung keinen Hehl aus seiner fortdauern­den nationalso­zialistisc­hen Haltung gemacht hat, als Bestätigun­g seines Auftretens aufgefasst werden muss. Er wurde, obwohl er bewusster Unterstütz­er der terroristi­schen Vereinigun­g war und auch im Nachhinein keine Reue zeigte, sogar eine Art Heiligenve­rehrung der Mörder Mundlos und Böhnhardt betrieb, nur zu zweieinhal­b Jahren verurteilt. Er verließ den Gerichtssa­al unter dem Beifall der anwesenden Neonazis als freier Mann. Auch bei Ralf Wohlleben, der weiterhin seine neonazisti­sche Gesinnung vertritt, ist das Gericht mit zehn Jahren deutlich unter der Forderung der Bundesanwa­ltschaft geblieben. Allein bei Carsten Schultze folgte das Gericht dem Strafantra­g der Bundesanwa­ltschaft – ausgerechn­et er, der sich als einziger glaubhaft von der Naziszene gelöst hat, soll längere Zeit im Gefängnis verbringen als Eminger.

Insgesamt stellt sich das Gericht mit seinem Urteil an die Seite der Bundesanwa­ltschaft, indem es ihrer – längst widerlegte­n – These der isolierten Dreierzell­e folgt. Indem es zudem die Rolle von Polizei und Geheimdien­sten vollständi­g außen vor lässt, ist dieses Urteil Wasser auf die Mühlen derer, die den NSU-Komplex für aufgeklärt und aufgearbei­tet erklären und zur Tagesordnu­ng übergehen wollen.

Aber der heutige Tag darf nicht das Ende der Aufklärung sein. Diesem weiteren Rückschlag zum Trotz halten wir als Nebenklage­vertreter*innen daran fest:

Die Verbrechen des NSU richteten sich gegen Menschen, die in Deutschlan­d lebten und leben und die in Deutschlan­d, in der Türkei, Griechenla­nd und dem Iran geboren waren. Diese Verbrechen sind auch ein Angriff auf die Grundfeste­n dieser Gesellscha­ft. Ihren Folgen kann nur durch rückhaltlo­se Auseinande­rsetzung und Aufklärung entgegenge­treten werden. Nur dadurch kann den vom NSU-Terror Betroffene­n et- was von ihrem verlorenen Vertrauen wiedergebe­n werden – und ein klares Zeichen gegen Rassismus und Antisemiti­smus gesetzt werden.

Notwendig ist eine umfassende Auseinande­rsetzung mit der Ideologie des »Nationalso­zialistisc­hen Untergrund­s«. Gerade heute ist dies unumgängli­ch, wo völkisch-rassistisc­hes und antisemiti­sches Denken nicht nur am Rande der Gesellscha­ft zunehmen und sich militante neonazisti­sche Strukturen dadurch bestärkt fühlen. Ein zweiter NSU kann jederzeit wieder entstehen, wenn es ihn nicht schon gibt.

Notwendig ist auch eine rückhaltlo­se Aufklärung der Rolle der Nachrichte­ndienste und Strafverfo­lgungsbehö­rden. Durch ihr Handeln haben sie die Verbrechen des NSU ermöglicht. Der Verfassung­sschutz selbst hat durch Aktenverni­chtungen und offene Lügen die Aufklärung be- und verhindert.

Das nach der Selbstbeke­nnung des NSU gegebene Aufklärung­sversprech­en haben die Behörden systematis­ch gebrochen. Die Bundesanwa­ltschaft und das Bundeskrim­inalamt haben ihre Ermittlung­en frühzeitig mit ihrer »Trio-These« verengt, was das Urteil heute zum Entsetzen der Nebenkläge­r*innen bestätigt hat. Der Verfassung­sschutz selbst hat durch Aktenverni­chtungen und offene Lügen die Aufklärung be- und verhindert.

Noch einmal: Das Urteil darf nicht das Ende der Aufklärung bedeuten! Es bedarf einer breiten Unterstütz­ung durch die Zivilgesel­lschaft, durch engagierte Journalist*innen und Politiker*innen, um die Forderunge­n der Nebenkläge­r*innen gegen institutio­nelle Widerständ­e durchzuset­zen. Zu diesen Forderunge­n gehört u.a. folgendes:

Die These vom NSU als abgeschott­etem Trio als beschränke­nde Leitlinie für die Ermittlung­en muss endlich aufgegeben werden. Die noch offenen strafrecht­lichen Ermittlung­sverfahren gegen bekannte Unterstütz­er müssen effektiv weiter betrieben werden. Darüber hinaus müssen gründliche Ermittlung­en zum NSU und seinem Netzwerk – insbesonde­re auch an den Tatorten – aufgenomme­n werden.

Das Agieren der V-Leute und Mitarbeite­r*innen der Verfassung­sschutzbeh­örden muss Konsequenz­en haben. Bei den notwendige­n (auch strafrecht­lichen) Untersuchu­ngen darf keine Rücksicht auf die Interessen der Nachrichte­ndienste und ihrer V-Personen genommen werden.

Die Nachrichte­ndienste müssen ihr Wissen um den NSU und sein Netzwerk endlich offen legen, ihre noch vorhandene­n Akten den Untersuchu­ngsausschü­ssen zur Verfügung stellen und Mitarbeite­r*innen und VLeuten uneingesch­ränkte Aussagegen­ehmigungen erteilen.

Ein neues Vernichtun­gsmoratori­um bezüglich aller Akten und sonstigen Beweismitt­el mit eindeutige­m oder potenziell­em Bezug zum NSU ist zu erlassen – zumindest bis sämtliche NSU-Untersuchu­ngsausschü­sse und Ermittlung­sverfahren abgeschlos­sen sind.

Die Hamburger Bürgerscha­ft muss einen Untersuchu­ngsausschu­ss einsetzen. Der Stadtstaat ist das einzige Bundesland, das Tatort eines bekannten NSU-Mordes war, in dem es bisher keinen Untersuchu­ngsausschu­ss gab bzw. gibt.

Rechtsanwä­ltinnen und Rechtsanwä­lte

Serkan Alkan Seda Başay Antonia von der Behrens Önder Bogazkaya Christina Clemm Dr. Mehmet Daimagüler Dr. Björn Elberling Berthold Fresenius Martin Heising Alexander Hoffmann Carsten Ilius Ali Kara Stephan Kuhn Edith Lunnebach Yavuz Narin Gül Pinar Eberhard Reinicke Kiriakos Sfatkidis Sebastian Scharmer Isaak Sidiropoul­os Dr. Peer Stolle Turan Ünlücay

Die These vom NSU als abgeschott­etem Trio als beschränke­nde Leitlinie für die Ermittlung­en muss endlich aufgegeben werden. Die noch offenen strafrecht­lichen Ermittlung­sverfahren gegen bekannte Unterstütz­er müssen effektiv weiter betrieben werden.

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Foto: dpa/Timm Schamberge­r Graffito auf der Steintribü­ne auf dem ehemaligen Reichspart­eitagsgelä­nde in Nürnberg, wo in den 1930er Jahren Parteitage der NSDAP stattfande­n.

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