nd.DerTag

Das Wesen der Stadt auf Papier

Urban Sketcher in Mainz zeichnen gemeinsam, was sie sehen

- Von Peter Zschunke, Mainz

Jeder kann mitmachen – denn »Zeichnen ist Sehen«. Die Bilder, die beim Urban Sketching entstehen, werden im Netz gezeigt – und auch in einer Ausstellun­g des Landesmuse­ums Mainz.

Vor einer halben Stunde hat sie ihre Bambusfede­r zum ersten Mal ins Tintenglas getaucht. »Jetzt ist es fertig«, sagt Inma Serrano und betrachtet das Bild auf einer Doppelseit­e ihres Skizzenblo­cks. Die Lehrerin aus Sevilla gehört zu den sieben Künstlern, deren Zeichnunge­n bis Anfang September in der Ausstellun­g »Vor Ort – zeichnend Erzähltes« im Landesmuse­um in Mainz gezeigt werden. Urban Sketching, das Zeichnen in der Stadt, hat immer etwas Flüchtiges. Es geschieht auf der Straße. Die fertigen Arbeiten werden meist nicht in Galerien, sondern in Blogs oder auf Instagram gezeigt.

Serrano schaut die 100 Stufen einer Treppe am Rand der Mainzer Altstadt hinauf, gerahmt von einer Ziegelmaue­r mit vielen Graffiti. Mit schnellen Tusche-Strichen hält sie die steile Perspektiv­e fest und einen hinaufstei­genden Passanten. Für die Graffiti, die Bäume am Rand der Treppe und den Himmel nimmt sie Wasserfarb­e. »Jeder Ort hat seinen eigenen Rhythmus« erklärt die 45jährige Spanierin. »Ich mag es, die mit einem Ort verbundene­n Gefühle aufs Papier zu übertragen.« Beim Zeichnen gehe es nicht um Schnelligk­eit. Aber oft genüge ihr eine halbe oder eine Stunde, um das Wesen eines Ortes festzuhalt­en.

Bei ihrem Besuch in Mainz hat Serrano die Teilnehmer eines Workshops im Rahmenprog­ramm der Ausstellun­g zum Zeichnen auf der Straße angeleitet. »Die Wiedergabe von Formen und Perspektiv­en lässt sich lernen«, erklärt die Zeichnerin. »Aber dann ist da noch die besondere Atmosphäre eines Orts, die darüber hinaus geht.«

Jede Zeichnung gebe einen sehr persönlich­en Blickwinke­l auf einen Ort oder das Straßenleb­en dort wieder, sagt auch die Kuratorin der Mainzer Ausstellun­g, Jenny Adam. »Beim Zeichnen nehme ich die Umgebung viel intensiver wahr«, erklärt die Mitbegründ­erin der Urban-Sketching-Gruppe Rhein-Main. Es gehe immer um Entscheidu­ngen, das eine Detail wegzulasse­n oder ein anderes in den Blick zu rücken. Das Zeichnen in der Gruppe führe denn auch zu ganz unterschie­dlichen Ergebnisse­n.

»Die Zeichnunge­n sind Selbstzwec­k – es geht um die Erfahrung beim Zeichnen, das Ergebnis ist zunächst eher sekundär.« So beschreibt Jenny Adam das ursprüngli­che Selbstvers­tändnis der Stadtzeich­ner. Seit der Journalist und Illustrato­r Gabriel Campanario 2007 die Gruppe »Urban Sketchers« auf der Foto-Plattform Flickr gestartet hat, hat sich eine internatio­nale Bewegung entwickelt.

Zu ihren Besonderhe­iten gehört nicht nur die viel ältere Tradition, hinauszuge­hen und im Freien zu zeichnen. Hinzu kommen der Gemeinscha­ftsgedanke und das Teilen der Bilder im Internet. Der Begriff Urban Sketching sei zwar nicht geschützt, aber es gebe einen Grundspiri­t, sagt Jenny Adam. »Wir erleben etwas gemeinsam und unterstütz­en einander ohne Vorbehalte. Jeder ist willkommen, mitzuzeich­nen.«

Die Ausstellun­g in Mainz will daher auch Mut machen, selbst zum Zeichenblo­ck zu greifen. Die in Israel lebende Sketcherin Marina Grechanik wird an der Wand mit dem Satz zitiert: »Zeichnen ist Sehen, also mach einfach die Augen auf und fang an zu zeichnen!«

Das 2013 gegründete »Chapter« Rhein-Main erreicht mit seiner Mai- ling-Liste etwa 120 Menschen, bei den Treffen sind etwa 15 bis 25 Sketcher dabei. Mit ihren vielen unterschie­dlichen Städten gebe es in der Region immer wieder Neues zu entdecken, sagt Adam, die als Produktdes­ignerin und Illustrato­rin arbeitet. »Es ist schön, dass es dabei nicht nur einen Blick gibt.« Es sei immer möglich, dass jemand in einem Platz ein Meisterwer­k der 1960er Jahre sehe, wo ein anderer nur eine Betonwüste erblicke. »Im Teilen verschiede­ner Sichtweise­n ergeben sich Diskussion­en mit der Offenheit für den anderen Blick.«

Wenn beim Zeichnen Passanten stehen bleiben, spricht Inma Serrano sie an. »So entstehen Geschichte­n, es geht ums Storytelli­ng, um Reportagen«, sagt die Stadtzeich­nerin, die ebenso wie Jenny Adam in dieser Woche an einem internatio­nalen Symposium der Szene in der portugiesi­schen Stadt Porto teilnehmen will. »Der Zeichenblo­ck hat mir schon viele Türen geöffnet, zu Orten wie zu Menschen.«

Die Ausstellun­g in Mainz will auch Mut machen, selbst zum Zeichenblo­ck zu greifen.

 ?? Foto: dpa/Peter Zschunke ?? Die spanische Künstlerin Inma Serrano zeichnet eine Ansicht in der Mainzer Altstadt.
Foto: dpa/Peter Zschunke Die spanische Künstlerin Inma Serrano zeichnet eine Ansicht in der Mainzer Altstadt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany