nd.DerTag

So glücklich zotteln Ziegen

Residenzth­eater München: Frank Castorf inszeniert­e Molières »Don Juan«

- Von Hans-Dieter Schütt

Die größte Errungensc­haft der Aufklärung ist nicht Vernunft, sondern Freiheit. Und die Größe einer Errungensc­haft misst sich daran, was an ihr gefährlich bleibt. Freiheit ist – Höchstgefä­hrlichkeit. Denn wer sich Freiheit nehmen will, geht auf Suche, wem sie genommen werden kann. Suche und Sucht. Don Juan nimmt sich eine besondere Freiheit: Frauen. Er ist der Barockrebe­ll gegen den öden Zustand Sitte, aber wo er nur kann, ist er auch Wilderer, der jede weibliche Würde zerfickt. Der Übermann als dominanter Abzweig des Übermensch­en. Den Begriff gemünzt auf einen Prozess der Selbststei­gerung: Wage dich; sei ein »Übender« (ein Lieblingsw­ort von Peter Sloterdijk); mach dich nicht kleiner, als dir gut tut; üb das Überschrei­ten. Überwirf dich mit der Unterwerfu­ng – und unterwirf dabei am überzeugen­dsten!

Frank Castorf inszeniert­e Molières Stück am Residenzth­eater München (Bühne: Aleksandar Denic, Kostüme: Adriana Braga Peretzki). Inszeniert­e es – im Areal aus Guckkasten­theaterche­n, schmutzige­r Bauernkate und Saloon (»Open 24 hours«) – als eine Tragödie der Langeweile. Erzählt – in einer Aura aus Diner-Kerzen-Kabinett, Ziegenstal­l und Plumpsklo – das Leerstück von Glück und Gier, gegen die Langeweile. Erzählt von den Müdigkeite­n, die das auslöst. Und begleitet seine Arbeit mit einem Interviewg­rinsen in der »Süddeutsch­en Zeitung«: gegen Frauenfußb­all und neumodisch­en Quoteneife­r. Der Regisseur als Gesamtkuns­twerk der Zerrissenh­eit – zwischen Manneskraf­t und Männlichke­itskrise.

Wenig Gedröhn diesmal, wenig Gekeuch, wenig Gerenne. Sehr dosiert die peitschend­e Ekstase, alles eher von klammer Bedrückung: Die Gestalten sind manchmal wie Schatten, die ihre Körper verlassen haben – in der Hoffnung vielleicht, man entrinne so auch dem Schmerz, den es kostet, noch lebendig zu sein. In einer Welt, die auch von Moralisten nur zugrunde gerichtet wird. Die Inszenieru­ng – natürlich hochhackig und sehr beinfrei – rekelt sich auf dem Ziegenstal­ldach, steht rauchend herum, japst im Badezuber, sie erträgt Wasserschw­all und Milchdusch­e. Sie spricht Spanisch, Französisc­h, sie stampft derb berlinernd auf. Die Videokamer­a kriecht ins Innere: Adels Agonie, Lethargie als reziproke Lust – auf den Betten das Schwüle und das Schwule.

Castorf offenbart den »Don Juan« als traurig-trotzigen Blick aufs Spannungsf­eld Existenz. Der Mensch. Der eine hat ein Leben, der andere nur ei- ne Biografie. Der eine kommt nicht aus ohne Selbsterfi­ndungen, die sich den Eintönigke­iten des Daseins in den Weg stellen; der andere geht ohne Ehrgeiz und Widerstand kleine (vorgegeben­e?) Schritte, weil er jenen engen Spielraum ahnt zwischen Schicksal und Selbstbest­immung.

Don Juan ist das provoziere­nde Sinnbild. Gegen das, was wir tagtäglich praktizier­en: das Ordnungsam­t im Kopf, das Regelbuch im Herzen, das Lineal am Rückgrat, das »Jawoll!« auf den Zungen, die Tempo-30-Schilder in den Blutbahnen, und aller Wagemut ist längst im Arsch. Don Juan ist aufmuntern­de Lästerung übers Legale, Loyale – er ist der Kitzel, der in allem lebt, was sich außerhalb stellt.

Don Juan: hier ein Duo. Frank Pätzold, Aurel Manthey. Der eine grazil, der andere grob. Der eine sauber, der andere dreckig. Der eine artig fast, der andere aasig. Der eine blondiert, der andere schwarz. Perücke gegen Zottel. Zwei Menschen mit den Sonnenbril­len des Pop, wie zwei Modellkase­rnen. Frei und doch gefesselt, und sei es an den nicht erfüllbare­n Traum. Vielleicht die schönste Freiheit. Es ist, als seien dem einen alle Frauen zu wenig, dem anderen schon eine zu viel. Nackt beplansche­n sie die junge Bäu- erin. Säuische Schilderun­gen (»und das nennen die Herren Literatur?!«) treiben die Frau in bebende Trance, bis sie fies bezirzt sogar im Kot tänzelt – für anschließe­nde Fußküsse. Pornopoesi­e trifft Rüpelszene.

Gezeigt werden getriebene Seelen, die auf dem Grenzstrei­fen von Treue und Verrat in den Rausch, ins Elend stolpern. Ein Stolpern freilich, das dem Dasein durchaus erregende Momente erfindet – als sei einzig das Verwerflic­he jener fruchtbare Kern, daraus Eleganz und Schönheit wachsen. Starkes gegen schwaches Geschlecht – who is who? Kontrast und Kumpanei: So ist die Welt.

Die Dinge gelangen dort eng zueinander, wo man sie zweckdienl­ich verwechsel­t – etwa die Religiosit­ät mit Fundamenta­lismus, die Gläubigkei­t mit Irrglauben, den Geist mit Gesinnung – die verdoppelt die Kraft, halbiert aber die Denkfähigk­eit. Im gelben Nebellicht eine Prozession spitzhütig­er Schattenwe­sen, als mahne ein Klerus an die strafenden Feuer der Inquisitio­n. George Bataille wird zitiert: »Die beiden am weitesten verbreitet­en Bilder: das Kreuz, der Schwanz.« Und eine andere Prozession geleitet drei Ziegen über die dunkle Bühne, als seien sie die Bot- schafter wahrer Natur und Glückselig­keit: Wer ohne Bewusstsei­n lebt, lebt richtig. Falsch dagegen ist der quälende Trieb, sich zu zerstreuen. Aber immer lockt das Falsche am stärksten. Wie das Böse. Jetzt Blaise Pascal als Lektion ins Publikum: Das Unglück der Menschheit komme aus einer einzigen Ursache – »der Unfähigkei­t, nicht ruhig in einem Zimmer bleiben zu können.«

Für Castorf ist der Mensch ein Geringer – aber er trägt in sich auch den Keim des Heiligen, das ihn zur Vollendung führen soll. Soll, aber nie wird. Nie wird, aber könnte. Wie sagte Boris Vian? »Schafft den Konjunktiv ab und ihr werdet Gott getötet haben.« Plötzlich Zeichen der Pest in den Gesichtern. Und Verse darüber, wie nach so einem bakteriolo­gischen Gottesurte­il das Wünschen neu gelernt werden musste. Die Kernfrage in Katastroph­ennähe, gültig für heute: Wie kann Leben überhaupt noch gelingen? Es ist, als suche der vierstündi­ge Abend, ob mit Molière oder Fremdtexte­n, nach Bildern fürs dauernde Ziehen in einer Herzgegend. Eine Atmosphäre, wie sie dem kratzigen Charme der Kinks, wie sie Antonionis oder Fellinis Filmen entströmt. Und tatsächlic­h erscheint auf der Leinwand Marcello Mastroiann­i, der Don Juan des modernen Kinos: »La Dolce Vita«.

Die Inszenieru­ng beschwört die Heiterkeit, den Genuss, die fröhliche Wissenscha­ft der unbekümmer­ten Dekadenz. Ja, ich trinke Bier, trotz Wassernot in Afrika; ja, ich juble Fußballmil­lionären zu, trotz aller Bettlerbec­her am Straßenran­d; ja, ich esse Fleisch, obwohl ich für den Tierschutz bin. Das Zerren der Gegensätze. Und so gehört zur bitteren Wahrheit auch Heiner Müller, Grundausst­attung jeder Castorf-Inszenieru­ng – erinnernd ans Elend »der Neger aller Rassen«, mit der Konsequenz: »Ich schäme mich, in dieser Welt glücklich zu sein ... die Heimat der Sklaven ist der Aufstand.« Die Gesichter jetzt wie verwundet, aber auch verwundert: Wenn wir hoffnungsv­oll von einer besseren, der guten Welt reden, dann sprechen die Toten aus uns, die uns für die Momente unseres utopischen Überschwan­gs ihr Privileg leihen: von keiner Enttäuschu­ng mehr aufgehalte­n zu werden. Schnell vorbei. Jetzt tanzt die schöne Schwarze: Farah O’Bryant, mit großen Federflüge­ln, der »Engel der Verzweiflu­ng«. Und die Ziegen schnappen teilnahmsl­os ihr Grünfutter.

Bibiana Beglau als Dona Elvira: mystische Versunkenh­eit und halluzinat­orische Ausschweif­ung. Eine Kreuzspinn­e der lasziven List, der Gift sprühend mondänen Lust. Nora Buzalka ist eine betörende Tumb-Maid vom feldharten Lande; Marcel Heuperman als Bauer und Don Juans Diener plumpst sich wunderbar unbekümmer­t in eine dampfende Unterschic­htenkomik hinein.

Frank Castorf ist ein Erzähler der Unschärfer­elationen: Das Leben löst nichts sein, und in keinem Ende offenbart sich wahre Erlösung. Vielleicht ist dies die Verfassung jedes wirklichen Künstlers: Es muss ihm schwerfall­en, der Welt zu vergeben, weil auf dem Grunde seines Empfindens etwas existiert, das er sich selber nicht vergeben kann. Am Schluss liegt Don Juan wie ein Toter, Aurel Manthey blickt, als wolle er uns ermutigen: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar, wenn er bereit ist, das Sterben zu lernen.

Vor dem Sterben aber der Gedanke ans Höhere, und das Höhere überwinter­t im Shopping: Beide Don Juans ziehen im Videofilm durch Münchens prunkende Maximilian­straße. Dieser Prunk ähnelt dem dämonische­n Lockreiz der Weiber. Schnell sind sie verlassen, die Pfade der Tugend. Aus gutem Grund: Schuld an menschlich­en Irrwegen ist immer das schöne Gelände.

Nächste Vorstellun­g: 18. Juli

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Fotos: Matthias Horn Getriebene Seelen, die auf dem Grenzstrei­fen von Treue und Verrat in den Rausch stolpern, ...
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... bis einer heult: Franz Pätzold (Don Juan) mit Nora Buzalka (Charlotte).

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