»Da ist die Bestie!«
Das schottische Seeungeheuer Nessie lässt Forschern keine Ruhe
Bitterkalt und sehr dunkel: Der Loch Ness in Schottland wirkt unheimlich. Hier soll Nessie ihr Unwesen treiben. Die Suche nach dem angeblichen Seeungeheuer läuft. Als Aldie Mackay im hohen Alter von ihrem Erlebnis 1933 am Loch Ness berichtete, war ihr die Aufregung immer noch anzumerken. Sie habe ihren Mann angeschrien: »Halte an, da ist die Bestie!«, schilderte sie in einem Interview Jahrzehnte später. Auch der Geistliche Gregory Brusey erzählte bestürzt von seinem Nessie-Erlebnis, das er gemeinsam mit einem Freund 1971 hatte: »Wir sahen plötzlich diesen langen Hals vom Wasser aufsteigen ... Dabei hatten wir nicht einmal Whisky getrunken.« Tausende Menschen wollen das Ungeheuer im Loch Ness schon gesehen haben. Alte Interviews mit Zeitzeugen präsentiert das Loch-Ness-Zentrum im Dorf Drumnadrochit, das an dem mysteriösen See liegt, der etwa 230 Meter tief, bitterkalt und sehr, sehr dunkel ist. Die angeblichen Nessie-Sichtungen lösen seit den 1930er Jahren einen gewaltigen Ansturm auf das Gewässer bei Inverness aus.
»Es kommen Leute aus aller Welt: Chinesen, Japaner, Italiener, Iren, Deutsche und viele Amerikaner«, so ein Busfahrer. »Monster patrol« (Monster-Patrouille) steht hinten auf seiner Weste. »Denken Sie dran: Wenn Sie Nessie sehen und es passiert was, das zahlt Ihnen keine Versicherung«, ruft er den Touristen hinterher.
Schottland hat Zehntausende Seen – und in vielen leben Sagen zufolge Geister und Ungeheuer. Doch nirgends gibt es einen solchen Hype wie beim Loch Ness. Die erste überlieferte Monsterbeobachtung war vor fast 1500 Jahren. Die Sichtungen nahmen mit dem Straßenbau in der Region in den 1930er Jahren zu. Einer gewagten Theorie zufolge könnte Nessie zu einer Reptiliengruppe aus der Urzeit gehören, etwa Plesiosauriern mit langem Hals und Flossen, die es im abgeschiedenen Gewässer geschafft haben sollen, zu überleben und sich zu vermehren. Unmöglich, meinen ernsthafte Forscher – allein schon, weil der See für eine solche Gruppe imposanter Tiere zu klein sei.
Nessie könnte auch ein riesiger Aal oder ein anderer Fisch sein, eine gigantische Robbe, ein profaner Gummischlauch oder ein Baumstamm, wird vermutet. Möglicherweise sind die Nessie-Beobachter ungewöhnlichen Wellenmustern und Luftspiegelungen in dem fast 40 Kilometer langen und etwa 1,5 Kilometer breiten Gewässer auf den Leim gegangen. Diverse Aufnahmen, die das Ungeheuer zeigen sollten, wurden als Fälschungen oder falsche Interpretationen entlarvt. Eine simple Ente oder eine vorbeifliegende Möwe können auf Fotos durchaus monströs wirken.
»Vielen lässt das alles immer noch keine Ruhe. Es gibt sogar jedes Jahr ein paar Leute, die nach Nessie privat suchen«, berichtet eine Mitarbeiterin des Loch-Ness-Zentrums. »Meistens sind die aber auf der anderen Seite des Sees. Da ist es ruhiger und einige Stellen sind besonders tief.«
Der britische Paläontologe Neil Clark hält Nessie für einen badenden Zirkuselefanten. In den 1930er Jahren machten viele Wanderzirkusse auf der Reise durch Schottland am Loch Ness Halt, berichtet er. Als ein solcher Dickhäuter im See schwamm, waren laut Clark nur noch Rüssel und zwei Erhebungen – Schädeldecke und ein Teil des Rückens – zu sehen. Ein Zirkusdirektor habe als Marketinggag sogar 20 000 Pfund für die Ergreifung des vermeintlichen Ungeheuers geboten, so der Forscher.
Amateurwissenschaftler Adrian Shine suchte Jahrzehnte nach Nessie, durchkämmte den See mit einer Flotte von Motorbooten und Sonargeräten. Doch von Nessie keine Spur. Dabei wäre Shine nicht einmal eine Fo- relle entkommen, hieß es. Manch vielversprechender Hinweis erwies sich als peinlicher Flop: So fand eine Expedition der Zeitung »Daily Mail« am Ufer angeblich mysteriöse Fußspuren. Tatsächlich stammten sie aber von einem präparierten Flusspferdfuß, der als Schirmständer dient.
Nun versucht ein internationales Team, das Rätsel zu lösen. Kürzlich entnahm es 300 Wasserproben. Die Forscher wollen DNA-Spuren von Lebewesen im See nachweisen. Ganz nebenbei erhoffen sie sich einen Hinweis darauf, ob es eine reale Grundlage für die Legende gibt. Leiter Neil Gemmell meint: »Große Fische wie Wels und Stör wurden als mögliche Erklärungen für den Monstermythos vorgeschlagen, und wir können diese Idee und andere sehr gut testen. Immer wenn sich eine Kreatur durch ihre Umgebung bewegt, hinterlässt sie winzige DNA-Fragmente aus Haut, Schuppen, Federn, Fell, Kot und Urin. Diese DNA kann eingefangen, sequenziert und dann verwendet werden, um diese Wesen zu identifizieren«, erklärt der Biomediziner. Das Projekt sei aber mehr als eine Monsterjagd. Es sollen bislang unbekannte Arten dokumentiert werden – vor allem winzige Bakterien. Wer neugierig ist, muss sich noch gedulden. »Ergebnisse der Studie werden nicht vor Januar 2019 vorliegen«, sagt eine Pressesprecherin der neuseeländischen Universität von Otago.