nd.DerTag

Sichere Häfen für alle

In ganz Deutschlan­d gehen am Sonnabend Tausende für Seenotrett­ung auf die Straße

- Von Niklas Franzen

Berlin. Sichere Häfen in Europa für Schutzsuch­ende schaffen, die Kriminalis­ierung der Seenotrett­ung beenden, Solidaritä­t mit Geflüchtet­en zeigen – das wollen die Aktivisten der »Seebrücke«-Bewegung, die derzeit täglich an Schwung zu gewinnen scheint. Seit Anfang Juli gehen Menschen aus ganz Deutschlan­d auf die Straßen; sie kommen aus unterschie­dlichen politische­n Spektren und demonstrie­ren zu Tausenden gegen die Abschottun­gspolitik. Seit die Retter nicht mehr retten dürfen, führt diese Politik zu besonders vielen Toten. Alleine seit Juni sind mehr als 700 Menschen im Mittelmeer ertrunken, seit Jahresbegi­nn mindestens 1100. Die »Seebrücke«Demonstran­ten tragen dagegen Orange. Die Farbe steht symbolisch für die Rettungswe­sten, die kaum noch zum Einsatz kommen.

Auch am Samstag soll Farbe gezeigt werden. Dann findet der Aktionstag »Day Orange« statt. Ob Fahne aus dem Fenster oder Spange im Haar – es soll darum gehen, sich solidarisc­h mit den Geflüchtet­en und Seenotrett­ern zu zeigen. In Dutzenden Städten sind Aktionen und Demonstrat­ionen geplant. Die Proteste zeigen: Es ist nur eine Minderheit der Bevölkerun­g, die hinter den Forderunge­n der Konservati­ven und Rechtsradi­kalen nach einer »Festung Europa« steht. Zahlreiche Menschen fordern ein Ende des Rechtsruck­s. Mehr und mehr erkämpfen sie sich derzeit Gehör. Und bekommen prominente Unterstütz­ung. Einst sang er »Land unter«, nun macht auch Herbert Grönemeyer gemeinsam mit dem Who-is-who der deutschen Musikszene mobil für die Rettung von Geflüchtet­en im Mittelmeer.

Der Gegenwind ist dabei gewiss. Der »NGOWahnsin­n« müsse beendet werden, forderte erst jüngst wieder der österreich­ische Bundeskanz­ler Sebastian Kurz. Und bezeichnet­e Rettungsor­ganisation­en, die im Mittelmeer Menschen bergen, als »Partner der Schlepper«. Auch in Deutschlan­d werden die Rettungssc­hiffe von höchster Stelle als »Menschen-Shuttle« bezeichnet und von »Anti-Abschiebe-Industrie« und »Asyltouris­mus« gesprochen. Die meisten Schiffe sind momentan auf Malta festgesetz­t. Nicht zuletzt wegen der Welle an Vorwürfen, die sich in den letzten Monaten über sie ergossen hat. Aber was ist dran an den Anschuldig­ungen? Kooperiere­n die Schiffe der Nichtregie­rungsorgan­isationen wirklich mit Schleppern? Und warum bringen die Helfer die Menschen nicht einfach zurück nach Afrika? Das »nd« räumt mit fünf Mythen über die Seenotrett­ung im zentralen Mittelmeer auf.

Sichere Häfen für Geflüchtet­e: Das fordern die Aktivist*innen der Seebrücke. Seit Wochen wird demonstrie­rt. Die Bewegung wächst – auch, weil sich nicht nur die üblichen Verdächtig­en beteiligen. Erst kam die Fassungslo­sigkeit. Dann die Ohnmacht. Dann die Lethargie. Und dann kam die Seebrücke.

Es ist ein warmer Sommermorg­en irgendwo zwischen Kreuzberg und Neukölln. An einem klapprigen Cafétisch in Sichtweite des Landwehrka­nals sitzen Lisa Meier und Jean Peters. Während die Wespen um ihre Köpfe fliegen und der Verkehr vorbeiraus­cht, zeichnen die beiden nach, was in den letzten Wochen geschehen ist. Was als kleine Gruppe in sozialen Netzwerken begonnen hat. Und was sich innerhalb von kurzer Zeit zu einer bundesweit­en Bewegung entwickelt hat.

»Abschottun­g bedeutet massenhaft­es Sterben im Mittelmeer«, sagt Meier. »Und viele Menschen sind an einem Punkt angelangt, wo sie nicht weiter zusehen wollen.« So ging es auch den beiden Berliner Aktivist*innen. Als dem deutschen Rettungssc­hiff »Lifeline« mit mehr als 200 Geflüchtet­en an Board Ende Juni von mehreren Staaten die Einfahrt verweigert wurde, starteten sie eine Gruppe über den Messengerd­ienst Telegram. Ein loser, »bunt zusammenge­würfelter« Zusammenha­ng entstand. Spontan wurde eine Demonstrat­ion in Berlin organisier­t. Die Geburtsstu­nde der Seebrücke.

12 000 Menschen gingen in der Hauptstadt auf die Straße. Doch nicht nur dort. In vielen anderen Städten wurde demonstrie­rt – und wird es bis heute. Von Kiel bis Konstanz gehen immer noch fast täglich Menschen unter dem Label Seebrücke auf die Straße. Auch in sozialen Netzwerken wächst die Bewegung. Unterstütz­ung erhält sie von Prominente­n wie dem Schauspiel­er Jan Josef Liefers und dem Moderator Jan Böhmermann, der eine Spendenkam­pagne für die »Lifeline«-Besatzung initiierte.

Ob er überrascht von den Ausmaßen der Proteste sei? Ja, das schon, meint Peters. Allerdings: Viele Menschen hätten genau auf so etwas wie die Seebrücke gewartet. »Wir füllen ein Vakuum. Es scheint, als habe die Seebrücke die Lethargie bei vielen Menschen aufgebroch­en.«

Und schnell ging es nicht mehr nur um die »Lifeline«, sondern um die europäisch­e Asylpoliti­k allgemein. Um das Aushebeln von Recht im Mittelmeer. Und um grundlegen­de Prinzipien von Menschlich­keit.

Doch wer steht hinter der Seebrücke? Das Bündnis ist breit. Die Bewegung wird von verschiede­nen linken Organisati­onen und Akteur*innen aus der Zivilgesel­lschaft getragen. Neben Sea-Watch und der Interventi­onistische­n Linken sind auch Oxfam und das Kunstkolle­ktiv Peng! dabei, bei dem der Aktionskün­stler Peters aktiv ist. Mit spektakulä­ren Protesten kennt er sich aus: Einmal rief er mit seiner Gruppe zum kollektive­n Klauen gegen globale Ungleichhe­it auf. Ein anderes Mal wurde unter dem Namen von Vattenfall eine falsche Pressekonf­erenz abgehalten. Nun unterstütz­t Peters die Seebrücke. Denn: »Durch die Seehofers und Salvinis verschiebt sich die Grenze des Sagbaren und Machbaren spürbar nach rechts. Ich will einen Beitrag leisten, dass sich das Pendel von rechts wieder zurückbewe­gt.« So wie Peters geht es vielen.

Bemerkensw­ert ist, dass viele Seebrücke-Aktivist*innen vorher nicht politisch aktiv waren und nicht aus den klassische­n linken Milieus kommen. Was sie eint: Die Unzufriede­nheit mit der europäisch­en Asylpoliti­k. Proteste seien für viele Neuland gewesen, einige hätten zum ersten Mal eine Demonstrat­ion angemeldet.

So auch Paul Kaluza. Der 23-Jährige lebt in Freiberg. Die Stadt liegt in Mittelsach­sen, hat eine Universitä­t und eine kleine Studierend­enszene. Die AfD ist stark – und auch die örtliche SPD macht es Linken schwer. Der Stadtrat beantragte Anfang des Jahres sogar einen Zuzugstopp für Geflüchtet­e. »Es ist nicht immer leicht für Menschen wie mich«, meint Kaluza. »Aber wenn die Frage, ob ertrinkend­en Menschen geholfen werden muss, diskutabel erscheint, ist es höchste Zeit, laut zu widersprec­hen«. Und das tat er. Mitte Juli meldete der Student eine Demonstrat­ion an und zog zusammen mit rund 100 Demonstran­t*innen durch die Kleinstadt. Den Protest bezeichnet­e Kaluza als ein »menschlich­es Zeichen aus der sächsische­n Provinz«.

Und so sieht das Prinzip der Seebrücke aus. Statt ausschließ­lich Großdemons­trationen in den urbanen Zentren durchzufüh­ren, wird auf dezentrale Aktionen gesetzt. Statt linksradik­alem Klüngel gibt es breite Bündnisse. Statt Kader und Hierarchie­n sollen sich alle einbringen können. »Für uns ist wichtig, dass jede und jeder selbststän­dig etwas organisier­en kann. Wir bieten bloß ein Dach«, sagt Peters. Mit Erfolg: Die Liste der beteiligte­n Städte wird mit jedem Tag länger. Peters lacht und meint: »Wir sind ein bisschen wie eine linke Pegida – nur zehnmal so schnell und nicht so scheiße.«

Die Aktionen sind vielfältig. Mahnwachen, Raves, Flashmobs, Yogastunde­n. Der kleinste gemeinsame Nenner ist die Forderung, dass das Sterben auf dem Mittelmeer aufhören muss. Peters drückt das so aus: Eigentlich sei die Seebrücke eine »konservati­ve Bewegung«, denn es gehe darum, bestehende Menschenre­chte zu erhalten.

Und es gibt konkrete Forderunge­n. Die zentrale heißt: Schafft sichere Häfen. Gerade lokal müsse Druck aufgebaut werden, betont Meier. Städte können Zufluchtss­tädte werden und sich solidarisc­h mit Geflüchtet­en zeigen. Oder sie könnten Fonds zur Finanzieru­ng von Seenotrett­ungsschiff­en einrichten. Dafür kämpfen die Aktivist*innen: in den Stadträten, in der Schule, in der Kirche.

Und wie geht es weiter? »Am besten wäre es natürlich, wenn wir uns übermorgen auflösen könnten«, meint Meier. Doch solange das Sterben im Mittelmeer andauert, rechte Populist*innen den Diskurs beherrsche­n und die Seenotrett­ung kriminalis­iert wird, soll es weiter gehen. In den nächsten Wochen sollen europaweit Aktionen stattfinde­n. Aber allzu viel planen könne man aufgrund der Dramatik der Ereignisse sowieso nicht.

Am Samstag soll erst einmal Farbe gezeigt werden. Dann findet der »Day Orange« statt. Orange stehe symbolisch für Seenotrett­ung und Solidaritä­t mit Geflüchtet­en – und hat sich zur Farbe der Bewegung entwickelt. »Ob Spange im Haar oder Fahne an der Hausfassad­e – wir rufen alle dazu auf, sich durch die Farbe orange solidarisc­h mit Geflüchtet­en zu zeigen«, sagt Meier. »Auch Karotten essen kann am Samstag ein Zeichen sein.«

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Foto: imago/ZUMA Press

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