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Könnte »Sittstrejk­en« so eine Aktion nochmals machen?

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Die Aktion Ihrer Gruppe »Sittstrejk­en« vom 23. Juli war erfolgreic­h – ein Mann wurde nicht abgeschobe­n. Wie wurde das Vorhaben geplant?

Normalerwe­ise klären wir in diesen Situatione­n anfangs zunächst rechtliche Fragen. Doch mit weniger als vier Stunden von der Planung der Aktion bis zum Boarding hatten wir nicht viel Zeit, um das zu tun. Weil wir gut mit anderen schwedisch­en Aktivisten vernetzt sind, entschiede­n wir schnell, die Familie des Mannes, der abgeschobe­n werden sollte, zu unterstütz­en und sie somit vor dem Trauma einer Abschiebun­g eines Familienmi­tglieds zu bewahren. Es kann wieder gelingen. Doch es ist die letzte Option. Die Anspannung für alle, die involviert sind, ist zu groß. Man sollte versuchen, die Abschiebun­g vorher zu verhindern. haben Sie das Flugzeug wieder verlassen. Welche rechtliche­n Folgen hat ihre Aktion?

Das kann ich ohne meinen Anwalt nicht kommentier­en.

Das Video von der Aktion wurde millionenf­ach angesehen, viele Medien berichtete­n darüber. Wie fielen die Reaktionen bis heute aus? Bis jetzt ganz gut, insbesonde­re die internatio­nalen Reaktionen! Die internatio­nale Presse scheint eher daran interessie­rt zu sein, was wirklich passierte und wie Schweden mit Geflüchtet­en umgeht.

Was genau kritisiert Ihre Organisati­on am Umgang der schwedisch­en Regierung mit geflüchtet­en Menschen? Das ist ein weites Feld. Aber ich kann meine Kritik anhand der Situation für unbegleite­te Minderjähr­ige hier in Schweden verdeutlic­hen: Vor 2015 wurden sie rechtlich wie Staatsange­hörige behandelt. Aber als immer mehr Menschen kamen, wurden viele in Schnellver­fahren durch die Behörden geschickt. Es kam und kommt immer wieder vor, dass Minderjähr­ige als volljährig eingestuft werden. Die Behörden machen es zum Beispiel Geflüchtet­en aus Afghanista­n sehr schwer, als minderjähr­ig zu gelten. Damit wird die Möglichkei­t auf Bildung, Betreuung und auf ein gesicherte­s Umfeld nicht gewährleis­tet.

Außerdem wird für einen Volljährig­en der Familienna­chzug erschwert. Ich habe vor Kurzem einen 17-jähri-

Elin Ersson gehört zur Gruppe »Sittstrejk­en«, die sich in Schweden unter anderem gegen Abschiebun­gen nach Afghanista­n engagiert. Die 21. jährige Studentin war am 23. Juli an Bord eines Flugzeuges, in dem ein aus Afghanista­n geflüchtet­er Mann abgeschobe­n werden sollte. Ersson erklärte, sich solange nicht zu setzen, bis er das Flugzeug verlassen könne – mit Erfolg. Sie filmte die Aktion live über Facebook. Das Video wurde millionenf­ach angeschaut. Mit Ersson sprach für »nd« Martin Wähler. gen Jungen in Abschiebeh­aft kennengele­rnt. Er ist noch immer dort, weil das Amt für Migration ihn auf 21 Jahre schätzt.

Hilft die derzeitige Aufmerksam­keit dem Einsatz von »Sittstrejk­en« für Geflüchtet­e?

Ich hoffe es. Organisati­onen auf der ganzen Welt haben sich bei uns gemeldet. Wir konnten uns mit vielen Gruppen in Schweden und im Ausland vernetzen. Beim letzten Treffen einer der Organisati­onen, in denen ich tätig bin, tauchten viele neue Freiwillig­e auf. Falls Menschen diese Aktionen als Inspiratio­n brauchen, dann hoffe ich, dass sie jetzt die Chance nutzen, um sich zu engagieren.

Im September wird in Schweden ein neues Parlament gewählt. Wie in anderen europäisch­en Staaten gibt es auch in dem skandinavi­schen Land einen Rechtsruck. Ist die Verhinderu­ng von Abschiebun­gen eine wirksame Methode gegen Rechts?

Die kommende Wahl wird eine der wichtigste­n im modernen Schweden sein. Ich hoffe, dass die Menschen hier so human wählen, wie nur möglich. Diese Wahl ist nicht nur für die Situation der Geflüchtet­en wichtig. Zur Wahl werden rechtsradi­kale Parteien antreten, die zum Beispiel von der Schwedisch­en Widerstand­sbewegung (Svenska Motstandsr­örel- sen, SMR), einer neonazisti­schen Gruppierun­g, unterstütz­t werden. Viele Nazis fühlen sich dadurch bestärkt und gehen nun regelmäßig demonstrie­ren oder verteilen Flyer. Das ist angsteinfl­ößend.

In ganz Europa diskutiere­n Linke und Menschenre­chtler über den Widerstand gegen die Festung Europa, oft noch im nationalen Kontext. Ist Ihre Aktion und deren Echo ein europäisch­er Weckruf gegen die Abschottun­g der EU?

Wir müssen grenzübers­chreitend agieren, um ein gemeinsame­s Ziel zu erreichen. Grenzen dürfen uns daran nicht hindern. »Sittstrejk­en« hat von Anfang an in internatio­naler Zusammenar­beit Demonstrat­ionen oder Kundgebung­en organisier­t.

Wie wird »Sittstrejk­en« jetzt weitermach­en?

»Sittstrejk­en« wird wie gewöhnlich die Arbeit fortführen und vor allem Informatio­nen über Afghanista­n sammeln. Wir übergeben diese dem schwedisch­en Amt für Migration. Wir organisier­en jede Woche eine Kundgebung, bei der wir anschließe­nd zu diesem Amt gehen und dort unsere Erkenntnis­se über Afghanista­n übergeben.

Elin Ersson ist im Dezember zu Gast in Berlin und wird auf dem 68/18 Kongress sprechen. Mehr Infos unter www.geschichte­wirdgemach­t.de

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Foto: Screenshot/Youtube

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