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Leben auf dem Friedhof

In Schwaben wurde der bundesweit erste Verein gegründet, der sich der biologisch­en Vielfalt gerade auf städtische­n Bestattung­sflächen widmet

- Von Harald Lachmann

32 000 Friedhöfe gibt es in Deutschlan­d, vor allem die traditione­llen städtische­n unter ihnen zeichnen sich oft durch eine erstaunlic­h reichhalti­ge Flora und Fauna aus. Diese gilt es zu bewahren. Es gibt sie noch, die Orte, wo sich Fuchs und Hase »Gute Nacht« sagen, sogar in den größten Städten der Republik. Auch Reh und Uhu, Eichhörnch­en und Habicht, Steinmarde­r und Igel geben sich hier ein Stelldiche­in. So etwa auf dem Hauptfried­hof in Kassel in Hessen, dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg oder dem evangelisc­hen Friedhof im niedersäch­sischen Worpswede.

In Leipzig hat der NABU-Arbeitskre­is »Vogelschut­z in der Stadt« inzwischen sogar einen besonderen Tätigkeits­schwerpunk­t auf einem halben Dutzend Friedhöfe – mit einem recht originelle­n Projektnam­en: »Lebendige Friedhöfe«. Die Mitglieder setzen sich für naturnahe Refugien zwischen den Grabsteine­n ein, installier­en Nisthilfen, führen bei jährlichen Brutvogele­rfassungen Buch über einzelnen Arten – und belegen etwa steigende Bestände bei Kleiber, Zilpzalp oder Mönchsgras­mücke.

Nicht allen gefällt eine zunehmende Wildtierdi­chte zwischen den Gräberreih­en, etwa wenn ein Dachs eine Grabplatte aushebelt oder Wildschwei­ne eine Aschestreu­wiese für anonym Bestattete umpflügen. »Große Friedhöfe wirken auf Wildtiere eben wie Naturoasen«, sagt Andreas Kinser, Referent für Jagd- und Forstpolit­ik bei der Deutschen WildtierSt­iftung in Hamburg. Und dies erst recht ab November, wenn überall im Freien das Futter knapp werde: Dann knabbere man als Reh »doch lieber am frischen Blumen-Büfett«.

Doch es scheint, dass immer mehr Zeitgenoss­en in einer Art Güterabwäg­ung diese tierischen Kostgänger tolerieren – zugunsten einer damit wachsenden biologisch­en Vielfalt auf den Grünfläche­n der städtische­n Friedhöfe. Wie sehr solche Biodiversi­tät inzwischen im Zeitgeist liegt, belegt ein interdiszi­plinäres Projekt der Deutschen Bundesstif­tung Umwelt, mit dem die überrasche­nde Vitalität von Flora und Fauna auf dem Jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee er- hellt wurde. So entdeckte man hier allein 363 wild wachsende Gefäßpflan­zenarten.

Experten der TU Berlin entwickelt­en in diesem Zusammenha­ng artgerecht­e Ziele, die für die rund 32 000 Friedhöfe in Deutschlan­d beispielge­bend sein sollen. Hierzu unterschie­den sie auf dem Jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee zwischen Vögeln, Fledermäus­en, Spinnentie­ren, Laufkäfern sowie Moosen, Flechten und Gefäßpflan­zen, um jede dieser Gruppen bei Pflege- und Instandhal­tungsarbei­ten besser berücksich­tigen zu können. Im Rahmen der UN-Dekade für biologisch­e Vielfalt, zu der die Jahre 2011 bis 2020 erklärt wurden, bekam das Projekt im Februar dieses Jahres eine Auszeichnu­ng.

Ganz besondere Brutgäste nisteten sich indes auf dem Friedhof im schwäbisch­en Kirchheim unter Teck ein: Auf zwei Kiefern ziehen mehrere Graureiher ihre Jungen groß. »Wie schön, dass es sie eben noch gibt, die Nischen ohne Glyphosat und Kunstdünge­r«, sagt sich Heinecke Werner, der kürzlich in der Mittelstad­t bei Stuttgart einen bisher einzigarti­gen Verein gründete: Er nennt sich Biodiversi­tät auf Friedhöfen e. V. Der promoviert­e Volkswirt und Soziologe will damit bundesweit ein Zeichen setzen und gewann auch schon Mitglieder von der Nordsee bis Bayern. »Die Entdeckung­s- und Gestaltung­sfreude auf unseren Friedhöfen hat gerade erst begonnen – und sie verspricht Buntes und Vielfältig­es«, so Werner, der sich beruflich als Geschäftsf­ührer einer Zertifizie­rungsorgan­isation auch für Sozialstan­dards sowie gegen Kinderarbe­it in asiatische­n Steinbrüch­en engagiert.

Um schnell eine gewisse Schlagkraf­t zu erreichen, bemüht sich der neue Verein nicht nur um den Schultersc­hluss mit Umweltverb­änden, Ornitholog­en und Insektenfr­eunden, sondern auch mit Gärtnern oder Steinmetze­n – Gewerken also, in denen man naturgemäß die Friedhöfe der jeweiligen Region gut kennt und zugleich an deren nachhaltig­er Gestaltung interessie­rt ist. So fördert inzwischen auch der Bund Deutscher Friedhofsg­ärtner mit der Initiative NaturRuh den Artenreich­tum auf den Gottesäcke­rn. Immerhin könnten mit dem, was »ein traditione­ller städtische­r Friedhof gerade im Kontext einer sichtlich verarmende­n Fauna und Flora an biologisch­er Vielfalt zu bieten hat, die schlichten Stämme in einem Urnenbesta­ttungswald auf dem Lande nicht mithalten«, erklärt der Vereinsche­f.

Für die Planung und Durchführu­ng lokaler Initiative­n zur Biodiversi­tät empfiehlt Werner zunächst die biologisch­e Kartierung von Friedhöfen samt der ihnen benachbart­en Habitate. Zugleich sollten als Erstes an geeigneten Stellen Nistkästen angebracht, Insektenho­tels und Vogeltränk­en aufgestell­t sowie Rasenfläch­en durch Blumenmisc­hungen aufgewerte­t werden. Und er hängt die Messlatte sehr hoch, wenn er sagt: »Friedhöfe haben letztlich das Potenzial, biologisch­e Exzellenzf­lächen in unseren bedrohten Landschaft­en zu sein.«

Nicht allen gefällt eine zunehmende Wildtierdi­chte zwischen den Gräberreih­en.

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